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Mord im Morgengrauen
Fiona Grace


Ein Cozy-Krimi mit Lacey Doyle #1
„Sehr unterhaltsam. Dieses Buch sollte in jeder Privatbibliothek von Lesern stehen, die einen gut geschriebenen Krimi mit einigen unerwarteten Wendungen und einer interessanten Handlung zu schätzen wissen. Sie werden nicht enttäuscht sein. Ein ausgezeichneter Begleiter für ein kaltes Wochenende!“

–-Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (für Mord im Morgengrauen)



MORD IM MORGENGRAUEN (EIN COZY-KRIMI MIT LACEY DOYLE – BUCH 1) ist der Auftakt einer herzerwärmenden neuen Cozy-Krimireihe von Fiona Grace.



Die frisch geschiedene, 39 Jahre alte Lacey Doyle braucht eine drastische Veränderung. Sie muss ihren Job kündigen, ihren schrecklichen Chef und New York hinter sich lassen und den Ausstieg aus ihrem hektischen Leben schaffen. Sie beschließt, das Versprechen, das sie sich als junges Mädchen gegeben hat, wahrzumachen, und alles hinter sich zu lassen und in das ruhige englische Küstenstädtchen Wilfordshire, an das sie sich durch wunderschöne Familienurlaube erinnert, zurückzukehren.



Wilfordshire ist mit seiner zeitlosen Architektur, den Straßen aus Kopfsteinpflaster und der allgegenwärtigen Natur noch genauso, wie Lacey es in Erinnerung hatte. Lacey will nicht wieder nach Hause zurückkehren und beschließt spontan, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen, indem sie ihren eigenen Antiquitätsladen eröffnet.



Endlich hat Lacey das Gefühl, dass in ihrem Leben alles nach Plan läuft – bis ein neuer und guter Kunde ihres Ladens tot aufgefunden wird.



Als Neuankömmling in der Stadt richten sich alle Augen auf Lacey, die nun ihren Namen reinwaschen muss.



Hält ihr neues Leben Laceys Erwartungen stand, während sie ihr eigenes Geschäft leiten, sich mit einem gehässigen Nachbarn auseinandersetzen und ein Verbrechen lösen muss – ganz zu schweigen von dem attraktiven Bäcker auf der anderen Straßenseite?



Buch 2 der Reihe – EIN HAARIGER FALL – kann bereits vorbestellt werden!





Fiona Grace

MORD IM HERRENHAUS




MORD IM HERRENHAUS




(EIN LACEY DOYLE COZY-KRIMI – BUCH EINS)




FIONA GRACE



Fiona Grace

Die Debutautorin Fiona Grace ist die Verfasserin der LACEY DOYLE COZY-KRIMI Buchreihe, die bisher aus den Romanen MORD IM HERRENHAUS (Buch #1), DER TOD UND EIN HUND (Buch #2) und VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch #3) besteht. Fiona würde sich sehr freuen, von Ihnen zu hören, deshalb besuchen Sie bitte ihre Webseite www.fionagraceauthor.com (http://www.fionagraceauthor.com/) über die Sie kostenlose Ebooks bekommen, wissenswerte Neuigkeiten rund um die Autorin erfahren und mit ihr in Kontakt treten können.








Copyright © 2019 durch Fiona Grace. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright Helen Hotson, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON FIONA GRACE

EIN LACEY DOYLE COZY-KRIMI

MORD IM HERRENHAUS (Buch #1)

DER TOD UND EIN HUND (Buch #2)

VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch #3)




KAPITEL EINS


Nicht schuldig.

So stand es schwarz auf weiГџ und in schwungvoller Schrift auf dem Scheidungsurteil.

Nicht schuldig geschieden.

Lacey seufzte und betrachtete das vor ihr liegende Dokument. Der so harmlos aussehende Briefumschlag war gerade von einem pickeligen, groГџspurig tuenden Boten im Teenageralter bei ihr abgeliefert worden, ganz so als sei es nur um eine Lieferung vom Pizzadienst. Und obwohl Lacey genau wusste, worum es sich bei diesem von einem Kurier zugestellten Brief handelte, hatte sie in diesem Moment rein gar nichts gefГјhlt. Ihre GefГјhle kamen erst zurГјck als sie auf ihr Sofa gesunken war, neben dem der Cappuccino, den sie wegen dem Klingeln an ihrer TГјr unberГјhrt auf dem Couchtisch stehen lassen hatte, immer noch leicht vor sich hin dampfte, den Umschlag aufgerissen und ihm das besagte Dokument entnommen hatte.

Die Scheidungspapiere.

Die Scheidung.

Zuerst hatte sie aufgeschrien und die Papiere auf den Boden geschmissen, so wie es jemand getan hätte, der unter großer Angst vor Spinnen litt und dem man gerade eine lebende Tarantel zugesandt hatte.

Und nun lagen sie also da, kreuz und quer verstreut über den modischen und ziemlich teuren Teppich, den ihr ihre Chefin Sandra, die Besitzerin des Einrichtungsgeschäftes, in dem sie arbeitete, geschenkt hatte. Selbst von da unten aus starrten ihr die Worte David Bishop gegen Lacey Bishop entgegen. Daneben kristallisierten sich aus dem Wust der vor ihr liegenden Worte ein paar einzelne Begriffe heraus: Auflösung der Ehe, unüberwindliche Differenzen, nicht schuldig,,

Zögerlich sammelte sie die Papiere vom Boden auf. Eigentlich war das Ganze gar nicht so überraschend gekommen. Mit den Worten „Du hörst noch von meinem Anwalt!“ hatte David einen Schlussstrich unter ihre vierzehnjährige Ehe gesetzt. Doch das alles hatte Lacey nicht vor dem gefühlsmäßigen Zusammenbruch bewahren können, der nun, wo sie die Papiere tatsächlich in den Händen hielt, über sie hereingebrochen war. Es gab einfach nichts, das sie vor dem Schrecken und der Endgültigkeit des schwarz auf weiß vor ihr liegenden Dokuments, das ihr bescheinigte „nicht schuldig“ zu sein, bewahren konnte.   So ging man eben in New York an die Dinge heran – unschuldig geschieden zu sein ist doch weniger schlimm als schuldig geschieden zu sein, oder? Aber die Worte „nicht schuldig“ kamen Lacey in ihrem Fall etwas dick aufgetragen vor. Wenn man allerdings David glaubte, dann war sie – und zwar sie ganz allein – schuld am Ende ihrer Ehe. Denn schließlich war sie 39 Jahre alt und noch immer kinderlos, ja sie hatte noch nicht ein einziges Mal irgendwelche Anzeichen dafür gezeigt, dass sie schwanger sein könnte. Genauso wenig hatte sie beim Anblick fremder Babys, zum Beispiel denen, die es im Laufe der Jahre in ihrem Freundeskreis zuhauf gegeben hatte, irgendwelche Hormonwallungen bekommen.



„Deine biologische Uhr tickt“, hatte ihr David eines nachts bei einem Glas Merlot erklärt, womit er aber wohl eher meinte: „Unsere Ehe ist eine tickende Zeitbombe.“

Lacey entfuhr ein tiefer Seufzer. Ach, wenn sie damals, mit 25 Jahren, als sie ihn in einem einzigen Rausch aus weißem Konfetti und überschäumendem Champagner geheiratet hatte, nur schon gewusst hätte, dass ihr die Tatsache, dass es ihr wichtiger sein würde Erfolg im Beruf zu haben als Mutter  zu werden einmal zum Verhängnis werden würde.

Nicht schuldig. Ha!

Mit Gliedern, die plötzlich so schwer wie Blei zu sein schienen, machte sie sich auf die Suche nach einen Stift und fand schließlich einen in dem Behälter, in dem sie ihre Schlüssel aufbewahrte. Wenigstens hatte jetzt – wo kein David mehr hier herummarschierte und nach verschusselten Schuhen, verlegten Schlüsseln, verlorenen Brieftaschen und nicht mehr aufzufindenen Sonnenbrillen suchte – alles wieder seine Ordnung hatte. Zwar war jetzt wieder alles dort, wo sie es hingetan hatte, doch wenn sie ehrlich war, war ihr das auch kein besonderer Trost.

Mit dem Stift in der Hand ging sie zurück zum Sofa, wo sie diesen auf der gepunkteten Linie ansetzte, auf der sie unterschreiben sollte. Doch bevor der Stift das Papier tatsächlich berührte hielt Lacey inne und ließ diesen weniger als einen Millimeter über der gepunkteten Linie schweben, als gäbe es da eine unsichtbare Grenze zwischen dem Kugelschreiber und dem Papier. Denn inzwischen hatte das Wort „Ehegattenunterhalt“ ihre Aufmerksamkeit erregt.

Stirnrunzelnd blätterte Lacey die entsprechende Seite auf und überflog die entsprechende Klausel. Diese besagte, dass Lacey als der besser verdienende Teil von ihnen und die alleinige Eigentümerin der Wohnung in der Upper Eastside, in der sie gerade saß, David über einen „Zeitraum von bis zu zwei Jahren“ hinweg eine „bestimmte Summe“ zu zahlen hätte, damit er sich „unter ähnlichen Bedingungen wie den ihm bisher gewohnten“ ein neues Leben aufbauen könne.

Lacey gab ein klägliches Lachen von sich. Was für eine Ironie es doch war, dass David jetzt ausgerechnet von ihrer Karriere profitieren sollte, die doch der Faktor gewesen war, der letztendlich zum Ende ihrer Ehe geführt hatte! David, der schon immer ein etwas kleinkarierter Gerechtigkeitsfanatiker gewesen war, würde dies bestimmt als eine Art „Entschädigung“ sehen. Doch Lacey wusste genau, was diese Zahlungen wirklich sein sollten, nämlich: Vergeltung. Rache. Heimzahlung.

Das ist wie ein Tritt in den Hintern, dachte sie.

Plötzlich verschwamm Lacey alles vor den Augen, so dass sie ihren Nachnamen nicht mehr erkennen konnte und ihr die Tinte verlaufen und das Papier unter ihrem Stift zerknittert vorkam. Dies lag wohl an der außer Kontrolle geratenen Träne, die aus ihrem Auge und auf das Papier getropft war. Wütend wischte sie mit dem Handrücken über das verräterische Auge.

Jetzt muss ich wohl wieder meinen Mädchennamen annehmen, dachte sie.

Denn Lacey Fay Bishop war Geschichte. Sie existierte nicht mehr. Das war der Name von Davids Frau gewesen und die war sie, sobald sie auf der gepunkteten Linie unterschrieben hatte, nun einmal nicht mehr. Sie würde wieder zu dem ihr seit ihren zwanziger Jahren nicht mehr vertrauten und inzwischen fast gänzlich in Vergessenheit geratenen Mädchen Lacey Fay Doyle werden.

Doch der Name Doyle bedeutete Lacey fast noch weniger als der Name, den sie sich in den letzten vierzehn Jahren von David „geborgt“ hatte.

Ihr Vater hatte die Familie verlassen als sie sieben Jahre alt gewesen war, direkt nach einem ansonsten wunderbaren Familienurlaub in dem idyllischen englischen Küstenstädtchen Wilfordshire. Seitdem hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen. Eben noch da – Eis schleckend an einem zerklüfteten, wilden, windigen Strand – war er am nächsten Tag verschwunden gewesen.

Und nun hatte sie ebenso versagt wie ihre Eltern damals! Nach all den Tränen, die sie in ihrer Kindheit über das Verschwinden ihres Vaters vergossen hatte und all den bitteren Vorwürfen, die sie ihrer Mutter als Teenager deswegen gemacht hatte, hatte sie nun als Erwachsene dieselben Fehler gemacht wie ihre Eltern! Sie hatte ihre Ehe ebenso in den Sand gesetzt wie diese. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass von ihrem Versagen nur sie und David betroffen waren und niemand sonst in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ihre Scheidung ließ wenigstens keine zwei verstörten, psychisch angeknacksten Töchter zurück. Sie starrte wieder auf diese verdammte Linie hinunter, auf der sie unterschreiben sollte, Doch Lacey zögerte dies immer noch hinaus. Es schien ihr als könne sie sich gerade auf nichts anderes konzentrieren als auf ihren neuen Namen.

Vielleicht lasse ich meinen Nachnamen in Zukunft ganz weg, dachte sie sich ironisch. Ich könnte mich Lacey Fay nennen, als wäre ich irgendein Popstar. Sie spürte wie sich ein hysterisches Lachen in ihrer Brust breitmachen wollte. Aber warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Für ein paar Dollar könnte ich mir einen ganz neuen Namen zulegen. Ich könnte mich – Sie sah sich auf der Suche nach einer Eingebung in ihrem Wohnzimmer um, wobei ihr Blick schließlich an der immer noch unberührt vor ihr auf dem Tisch stehenden Kaffeetasse hängen blieb – Lacey Fay Cappuccino nennen. Warum eigentlich nicht? Prinzessin Lacey Fay Cappuccino!



Sie brach in ein wildes, lautstarkes Gelächter aus, bei dem sie ihren mit glänzenden dunklen Locken bedeckten Kopf zurückwarf. Doch dieser Lachanfall verebbte so schnell wie er gekommen war und so wurde es in der Wohnung, in der sich ja außer ihr selbst niemand aufhielt, plötzlich wieder sehr still.

Schnell kritzelte Lacey ihren Namen unter die Scheidungspapiere. Das war�s dann also gewesen.

Sie nippte an ihrem Kaffee. Er war kalt.


*

Wie jeden Tag betrat Lacey die ziemlich volle U-Bahn, die sie zu dem Büro bringen sollte, in dem sie als Assistentin einer Innenarchitektin beschäftigt war. Mit ihren hochhackigen Schuhen und ihrer Handtasche reihte sich Lacey nahtlos in die Menge der anderen Pendlerinnen ein. Nur, dass sie anders war als die anderen. Denn unter der halben Million anderer Pendler, die an diesem Morgen die New Yorker U-Bahn bevölkerten, war sie wahrscheinlich die einzige, die noch vor ihrem Aufbruch zur Arbeit ihre Scheidungspapiere zugestellt bekommen hatte. Und so war sie nun das neueste Mitglied im Club der traurigen Scheidungsopfer.

Lacey fühlte wie ihr die Tränen kamen. Sie schüttelte ihren Kopf und zwang sich dazu, an schönere Dinge und bessere Zeiten zu denken. Das erste, das ihr dabei in den Kopf kam, war Wilfordshire und der friedliche, wildromantische Strand, dieses Badertes. Plötzlich erinnerte sie sich sehr lebhaft an das Meer und die salzhaltige Luft. Sie erinnerte sich an den Eiswagen mit seiner gruseligen Klingel und an die heißen Pommes – ihr Vater hatte ihr gesagt, dass diese in England Chips hießen – die man dort in kleinen Styroporschalen kaufen konnte und die dann mit kleinen Holzgabeln aufgespießt wurden, sowie an die vielen Möwen, die versuchten die Pommes zu klauen, sobald man einmal nicht hinsah. Sie dachte an ihre Eltern und wie fröhlich ihr diese damals im Urlaub vorgekommen waren. .

War das alles eine einzige Lüge gewesen? Sie war damals erst sieben Jahre alt gewesen und Naomi war sogar erst vier und damit waren sie beide zu jung gewesen, um die wahren Gefühle von Erwachsenen deuten zu können. Aber wie es aussah waren ihre Eltern  wahre Meister im Vorspielen und Verhehlen von Gefühlen gewesen zu sein, denn eigentlich schien alles um sie herum perfekt zu sein, bis quasi über Nacht alles den Bach hinab gegangen war.

Zwar waren Lacey ihre Eltern damals wirklich glücklich vorgekommen aber wahrscheinlich hatten auch David und sie auf ihre Umgebung so gewirkt  als fehlte es ihnen an nichts. Und eigentlich war das ja auch so gewesen. Sie hatten eine nette Wohnung gehabt und gut bezahlte Jobs, die ihnen Spaß machten. Und sie waren gesund. Das einzige, das ihnen gefehlt hatte, war eines dieser verdammten Babys, die auf einmal angefangen hatten, eine so große Rolle in Davids Gedanken einzunehmen. Diese  waren fast genauso schnell gekommen, wie das Verschwinden ihres Vaters. Vielleicht war das so ein „Männerding“. So ein plötzlicher Moment der Erkenntnis, nach dem es kein Zurück mehr in ihr ihr altes Leben geben konnte und alles, was ihnen im Weg stand, niedergebrannt werden musste, weil es ihnen sowieso nichts mehr wert war.

Lacey verließ die U-Bahn und reihte sich in die Menschenmassen ein, die sich durch die Straßen von New York City schoben. Sie lebte schon ihr ganzes Leben lang in New York, doch nun kam ihre Umgebung dort auf einmal erdrückend eng vor. Sie hatte die Geschäftigkeit dieser Stadt immer geliebt – ganz zu schweigen von ihren Geschäften. Eigentlich war New York immer ihr ein und alles gewesen. Doch inzwischen sehnte sie sich von ganzem Herzen nach einer radikalen Veränderung ihres Lebens. Und nach einem Neuanfang.

Auf ihrem Weg zu ihrem nur ein paar Blocks entfernt gelegenen BГјro fischte sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und rief Naomi an. Ihre Schwester ging schon beim ersten Klingeln ran.

„Alles okay bei dir, Schatz?“

Dass Naomi trotz der frГјhen Stunde so schnell an ihr Telefon ging lag daran, dass sie schon damit gerechnet hatte, dass Lacey ihre Scheidungspapiere bekommen wГјrde. Doch die Scheidung war das letzte Гјber das Lacey jetzt sprechen wollte.

„Kannst du dich noch an Wilfordshire erinnern?“

„Hä?“

Naomi klang verschlafen, was nicht weiter verwunderlich war, weil sie als alleinerziehende Mutter von Frankie, dem wildesten 7-jährigen Jungen aller Zeiten jeden Tag ziemlich viel zu tun hatte.

„Wilfordshire. Wo wir unseren letzten Urlaub mit Mama und Papa verbracht haben.“

Einen Augenblick lang war es ganz still am anderen Ende der Leitung.

„Warum fragst du mich danach?“

Wie ihre Mutter sprach auch Naomi nie über etwas, das irgendwie mit ihrem Vater zu tun hatte. Als er verschwand war sie jünger gewesen als Lacey, weshalb sie behauptete sowieso keine Erinnerung an ihn zu haben und auch keine Zeit und Energie damit verschwenden wolle, sich Gedanken über sein plötzliches Verschwinden zu machen. Aber als sie eines nachts ein paar Schnäpschen zu viel intus hatte, hatte sie zugegeben, dass sie sich doch sehr gut an ihn erinnere und oft von ihm träume. Außerdem hatte sie ihrem Vater in ihren über einen Zeitraum von drei Jahren stattfindenden, allwöchentlichen Therapiesitzungen stets die Schuld am Scheitern all ihrer eigenen Beziehungen zugeschoben. Mit vierzehn hatte Naomi ihre erste chaotische Beziehung gehabt, der seitdem eine Menge weitere, nicht weniger chaotische gefolgt waren. Naomis Liebesleben war so ein Durcheinander, dass es Lacey ganz schummerig wurde, wenn sie nur daran dachte.

„Die Papiere sind gekommen.“

„Oh Schatz, das tut mir so leid. Bist du – FRANKIE LEG DAS HIN ODER ES SETZT WAS!“

Während Naomi Frankie alle möglichen schrecklichen Dinge androhte, wenn er nicht sofort mit dem aufhöre, was er gerade tat (was immer das auch sein mochte) hielt Lacey das Handy mit einem leisen Seufzen ein wenig von ihrem Ohr weg.

„Tut mir leid Schatz,“ sagte Naomi jetzt wieder in normaler Lautstärke. „Bist du okay?“

„Es geht mir gut.“ Lacey machte eine kleine Pause. „Nein, eigentlich geht es mir nicht so besonders. Ich bin irgendwie durcheinander. Auf einer Skala von eins bis zehn – wie verrückt würdest du es finden, wenn ich meinen Job schwänzen und den nächsten Flug nach England nehmen würde?“

„Äh, ich bin da ungefähr bei elf. Die werden dich feuern.“

„Ich frage sie einfach, ob sie mir unbezahlten Urlaub geben.“

Lacey konnte förmlich hören wie Naomi mit den Augen rollte.

„Du willst Saskia echt nach einem freien Tag oder gar nach unbezahltem Urlaub fragen? Erinnerst du dich denn nicht mehr daran, wie sie dich letztes Jahr über Weihnachten durcharbeiten lassen hat?“

Bestürzt zog Lacey eine Schnute – eine Geste, die sie laut ihrer Mutter von ihrem Vater geerbt hatte. „Ich muss aber irgendwas tun, Naomi. Ich fühle mich so erdrückt von dem allem.“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte begann sie am Hals ihres Rollkragenpullovers, der sich plötzlich wie eine Schlinge um ihren Hals anfühlte, herumzuziehen.

„Natürlich fühlst du dich jetzt so, als müsstest du etwas an deinem Leben ändern. Das ist in deiner Situation wohl ganz normal. Ich will bloß nicht, dass du etwas Unüberlegtes tust. Die Frage ist doch: warum wirfst du jetzt, wo David weg ist, auch noch deine Karriere hin, die dir ja scheinbar immer wichtiger war als er?“

Lacey blieb stehen und runzelte ihre Stirn. Meinte Naomi, das was sie da gerade gesagt hatte wirklich ernst?

„Ich habe meiner Karriere nie den Vorzug vor David gegeben – schließlich war es doch er, der mir ein Ultimatum gestellt hat.“

„Lege dir die Geschichte ruhig so zurecht wie sie dir am besten passt, Lace, aber…FRANKIE! FRANKIE! ICH SCHWÖRE DIR – “

Inzwischen war Lacey an ihrem Büro angekommen. Sie seufzte kurz auf. „Tschüss, Naomi.“

Damit beendete sie ihr Telefonat und blickte an dem großen Backsteingebäude hoch, in dem sie 15 Jahre ihres Lebens gearbeitet hatte. Fünfzehn Jahre für den Job. Vierzehn Jahre für David. Jetzt war es an der Zeit, einmal an sich selbst zu denken. Nur ein kleiner Urlaub. Eine Reise in ihre Vergangenheit. Eine Woche. Vierzehn Tage. Höchstens einen Monat lang. Plötzlich wurde es Lacey ganz leicht ums Herz. Sie betrat das Gebäude. Saskia stand über einen Computer gebeugt da und brüllte einem verängstigt dreinblickenden Angestellten Befehle ins Gesicht. Noch bevor ihre Chefin die Gelegenheit hatte, sich ihr zuzuwenden, streckte Lacey ihr eine Hand entgegen, um ihr zu signalisieren, dass sie ruhig sein solle. Denn jetzt sprach sie:  „Ich nehme mir ein paar Tage frei.“

Bevor sie auf den Absätzen kehrt machte und auf demselben Weg, auf dem sie eben hereingekommen war, wieder hinausmarschierte, sah sie gerade noch, wie Saskia die Stirn runzelte.

Fünf Minuten später hing Lacey wieder am Telefon und buchte einen Flug nach England.




KAPITEL ZWEI


„Mensch, Schwesterherz, bist du jetzt total durchgeknallt?“

„Liebling, du verhältst dich vollkommen irrational.“

„Geht’s Tante Lacey gut?“

Diese Worte von Naomi, Mama und Frankie geisterten immer noch in Laceys Kopf herum, als sie aus dem Flugzeug stieg und das Rollfeld des Flughafens Heathrow betrat. Vielleicht war es ja verrückt gewesen, den ersten Flug vom JFK Flughafen nach England zu nehmen, sich sieben Stunden in ein Flugzeug zu setzen und nichts weiter mitzunehmen als ihre Handtasche und eine Tragetasche, die nur ein paar schnell in den Läden am Flughafen zusammengekaufte Hygieneartikel und Kleidungsstücke enthielt. Aber seit dem Moment, in dem sie Saskia, David und New York den Rücken zugekehrt hatte, fühlte sie sich richtiggehend beschwingt. Sie fühlte sich jung. Sorglos. Zu Abenteuern aufgelegt. Mutig. Sie fühlte sich wieder wie die Lacey Doyle, die sie VD (Vor David) gewesen war.



Ihrer Familie die Neuigkeit zu überbringen, dass sie sich mal eben ohne Vorwarnung auf den Weg nach England machen würde, war allerdings deutlich weniger erhebend gewesen. Zwar hatte sie dies nur übers Telefon erledigt, doch das Dumme an der Sache war gewesen, dass keiner ihrer Lieben einen Anrufbeantworter zu haben schien und sie alle kein Blatt vor den Mund nahmen. Und so hatte Lacey das „Vergnügen“ gehabt, von allen Dreien die Leviten gelesen zu bekommen.

„Was ist, wenn du gefeuert wirst?“ jammerte ihre Mutter.

„Die feuern sie ganz bestimmt“, war Naomis Meinung dazu.

Und Frankie wollte wissen: „Hat Tante Lacey einen Nervenzusammenbruch?“

Lacey stellte sich vor, wie die drei an einem Konferenztisch saßen und alles dafür taten, sie von der Verwirklichung ihres Traums abzuhalten. Aber natürlich verhielt das Ganze sich in Wirklichkeit doch ein wenig anders, denn schließlich waren diese Drei die Menschen, die ihr am nächsten standen, und so war es geradezu deren Pflicht, zu versuchen, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Wer sollte das denn in diesem ihrem neuen, ihr noch vollkommen unvertrauten Abschnitt ihres Lebens, den sie ND – Nach David – nannte, auch sonst tun?

Lacey durchquerte die Wartehalle, wobei sie einfach hinter den anderen, ebenfalls übernächtigten Passagieren herging. Draußen empfing sie der berühmte englische Sprühregen. So viel zum Frühling. Doch obwohl die feuchte Luft die Haare auf Laceys Kopf dazu brachte sich zu kräuseln, kehrte in ihrem Kopf eine wohltuende Ruhe ein, die es ihr endlich einmal ermöglichte, richtig nachzudenken. Doch was auch immer kommen würde, eines war klar: es gab keinen Weg zurück – nicht nach dem 7-stündigen Flug, der gerade hinter ihr lag und den hunderten von Dollars, die sie für das Flugticket bezahlt hatte.

Der Flughafen war ein riesiges, an ein Gewächshaus erinnerndes Gebäude, das nur aus Stahl und glänzendem, blau getöntem Glas zu bestehen schien und von einem hochmodernen, gewölbten Dach beschirmt wurde. Lacey betrat das glänzende, geflieste Bauwerk, an dessen Wänden sie einige von einer Gesellschaft mit dem altmodischen Namen „British Building Society“ zur Verfügung gestellte kubistische Gemälde ausmachte, und reihte sich in die Schlange am Passkontrollschalter ein. Als sie an der Reihe war, sah sie sich einer finster blickenden Blondine mit schwarzen, extra breit geschminkten Augenbrauen gegenüber. Lacey reichte der Frau ihren Pass.

„Was ist der Zweck Ihres Aufenthalts? Geschäftlich oder privat?“

Die Frau sprach mit einem ziemlich harten Akzent, der Lacey in nichts anВ  den sanften, charmanten Akzent, den sie von den Auftritten einiger britischer Schauspieler in ihren Lieblingstalkshows her kannte und mochte, erinnerte.

„Ich mache Urlaub.“

„Da ist kein Rückflugticket.“

Da die Frau einen ziemlich ungewöhnlichen Umgang mit der Grammatik pflegte dauerte es eine Weile bis Lacey bewusst war, auf was diese hinauswollte. „Ich weiß noch nicht, wann ich zurückfliege.“

Die Kontrolleurin hob ihre dicken, fetten Augenbrauen und man konnte ihr vom Gesicht ablesen, dass ihr anfängliches Misstrauen zu einem richtigen Verdacht geworden war. „Aber wenn Sie hier arbeiten wollen, dann brauchen Sie ein Visum.“ „acey schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht vor. Das letzte, was ich hier tun möchte, ist arbeiten. Ich habe gerade eine Scheidung hinter mir. Ich brauche einfach eine Auszeit, um mich zu sammeln – vielleicht mal ein Eis essen gehen und mir den einen oder anderen schlechten Film anschauen.“

Sofort entspannte sich das Gesicht der Frau und nahm sogar einen mitleidigen Ausdruck an, der Lacey vermuten lieГџ, dass auch sie Mitglied im Club der traurigen Scheidungsopfer war.

Sie gab Lacey ihren Pass zurück. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Und Kopf hoch!“

Lacey schluckte, um den plötzlich in ihrem Hals aufgetauchten „Frosch“ loszuwerden, bedankte sich bei der Kontrolleurin und ging zum Ankunftsbereich weiter. Dort standen ein paar Grüppchen von Leuten herum, die auf die Ankunft ihrer Lieben warteten. Einige hatten Ballons dabei und wieder andere Blumen. Eine Gruppe, die aus ein paar sehr blonden Kindern bestand, hielt ein Schild in den Händen, auf dem stand: „Herzlich willkommen zu Hause, Mama! Wir haben dich vermisst!“

NatГјrlich war da niemand, der auf Lacey wartete, was sie auf ihrem Weg durch die belebte Wartehalle zum Ausgang dazu brachte, darГјber nachzudenken, dass es von nun an keinen David mehr geben wГјrde, der sie an irgendeinem Flughafen willkommen heiГџen wГјrde.

Wenn sie doch nur bei der Rückkehr von ihrer bisher letzten Geschäftsreise, die sie zum Einkauf antiker Vasen nach Mailand geführt hatte, geahnt hätte, dass dies das letzte Mal sein würde, dass David sie am Flughafen mit einem Grinsen im Gesicht und einem großen Strauß bunter Gänseblümchen in Empfang nahm. Denn dann hätte sie diesen Augenblick viel mehr zu schätzen gewusst.

DrauГџen angekommen winkte Lacey sich ein Taxi heran. Es handelte sich dabei um eine der fГјr englische Taxis typischen, altmodischen, schwarzen Kutschen, so dass Lacey gleich in eine nostalgische Stimmung versetzt wurde. Denn auch damals, in ihrem so viele Jahre zurГјckliegenden, fatalen letzten Familienurlaub, waren sie, Naomi und ihre Eltern mit so einem schwarzen Taxi gefahren.

„Wohin möchten Sie?“ fragte der Taxifahrer, als sie auf den Rücksitz des Taxis schlüpfte.

„Nach Wilfordshire.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder etwas von dem Taxifahrer hörte. Der drehte sich auf seinem Sitz ganz zu ihr herum, um ihr bei dem, was er zu sagen hatte, ins Gesicht schauen zu können; dabei runzelte er sichtlich entgeistert seine drahtigen Brauen. „Sie wissen aber schon, dass die Fahrt dorthin zwei Stunden dauert?“

Lacey blinzelte ebenfalls irritiert, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihr der Fahrer mit dieser Frage sagen wollte.

„Das ist schon okay,“ meinte sie und zuckte dabei mit den Schultern.

Jetzt wirkte der Taxifahrer noch etwas entgeisterter als zuvor. „Sie kommen aus Amerika, oder? Ich weiß zwar nicht, was ihr dort drüben so für Taxifahrten zahlen müsst, aber hier bei uns kostet eine Fahrt von zwei Stunden eine schöne Stange Geld.“

Die raue Art des Taxifahrers überraschte Lacey ein wenig, denn zum einen entsprach diese so gar nicht dem Klischee des frechen Londoner Taxifahrers und zum anderen war sie irritiert davon, dass dieser Typ anscheinend glaubte, sie könne sich eine solche Fahrt nicht leisten. Sie fragte sich, ob das wohl daran lag, dass sie eine allein reisende Frau war. Denn bei keiner der längeren Taxifahrten, die sie bisher zusammen mit David unternommen hatte, waren sie je gefragt worden, ob sie diese Fahrt auch bezahlen könnten.

Deshalb versicherte sie dem Taxifahrer in leicht unterkühltem Ton: „Keine Sorge, ich habe Geld zahlen.“

Daraufhin drehte sich der Fahrer wieder nach vorne und setzte sein Taxameter in Gang. Dieses meldete sich mit einem Piepsen und dem Aufleuchten eines grünen Pfund-Symbols, das schon wieder nostalgische Gefühle in Lacey auslöste.

„Ich fahre Sie so lange, wie Ihr Geld reicht“, meinte der Taxifahrer mit dünner Stimme und setzte den Wagen in Bewegung.

Das ist dann wohl die englische Gastfreundschaft, dachte Lacey bei sich.


*

Wie von dem Taxifahrer angekündigt kamen sie zwei Stunden später in Wilfordshire an, was Lacey sage und schreibe 250 Pfund kostete. Doch sobald Lacey aus dem Wagen gestiegen war und die herrlich frische Meeresbrise eingeatmete gerieten die hohe Taxirechnung und der unfreundliche Taxifahrer  sofort in Vergessenheit. Sogar die Luft hier roch noch genau so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte.

Lacey hatte sich schon immer darüber gewundert, wie viel Gerüche und unser Geschmackssinn zu unserem Erinnerungsvermögen beitrugen, und tat das auch jetzt wieder. Die nach Salz riechende Luft hatte sie sofort in einen ihr seit dem Verschwinden ihres Vaters abhanden gekommenen Zustand einer sorglosen Leichtigkeit versetzt. Dieses Gefühl von Leichtigkeit war so stark, dass es sie ganz zittrig machte. Mit einem Schlag fielen die ganzen Ängste, die ihre Familie ihr wegen dieser ungeplanten Reise eingeimpft hatte, von ihr ab. Das hier war genau das, was Lacey jetzt brauchte.

Sie ging die Hauptstraße entlang. Hier gab es keinen leichten Regen wie zuvor am Londoner Flughafen, sondern einen Sonnenuntergang, dessen letzte Strahlen die Umgebung in ein goldenes Licht tauchten und auf diese Weise fast magisch erscheinen ließen. Alles war genauso, wie Lacey es in Erinnerung hatte: da gab es die zwei sich gegenüber liegenden Reihen alter Steinhäuschen, die direkt auf dem Kopfsteinpflaster des Ortes erbaut worden waren und deren große, noch im alten Stil erhaltenen Erkerfenster zur Straßenseite hinausgingen. Und auch die Lädchen einschließlich ihrer Schaufenster sahen noch genauso aus wie früher. Sie hatten sogar noch alle ihre ursprünglichen Holzschilder, die über den Ladentüren im Wind hin und her schwangen. Jeder dieser Läden war einzigartig, ganz gleich, ob es dort nun Kinderbekleidung, Kurzwaren, Gebäck oder Kaffee zu kaufen gab. Und dann war da noch ein altmodischer Süßwarenladen, in dem man die Wahl zwischen vielen farbenfrohen  Süßigkeiten hatte, die alle jeweils nur einen Penny kosteten.

Es war April und deshalb war die Stadt überall mit Girlanden für das bevorstehende Osterfest mit bunten Wimpeln geschmückt worden. Und die Sitzgelegenheiten vor den Pubs und Bistros der Stadt waren von Leuten bevölkert, die ihren Abend mit einem Bierchen oder einem schönen Essen ausklingen ließen. Die Laune war gut, es wurde geplaudert und gelacht.

Angesichts dieses entspannten Moments, in dem Lacey endlich eine lang ersehnte Ruhe empfand, griff sie zu ihrem Smartphone und hielt das fröhliche Treiben in einem Schnappschuss fest. Da auf dem Foto auch der silbern glitzernde Ozean sowie der vom Sonnenuntergang in verschiedene Rosatöne versetzte Himmel zu sehen war, hätte dieses auch gut als Postkarte durchgehen können. Deshalb lud sie das Bild hoch, um es mit der vor einiger Zeit von Naomi unter der Bezeichnung Doyle Girlz gegründeten Gruppe  – das heißt ihrer Familie zu teilen.

Es ist alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, schrieb sie unter das tolle Bild.

Einen Augenblick später zeigte das Gerät Lacey mit einem leisen „Pling“ an, dass sie eine SMS bekommen hatte. Es war eine Nachricht von Naomi.

Sieht ganz so aus, als wärst du zufällig in der Diagon Alley gelandet, Schwesterherz.

Lacey seufzte. Diese Antwort von ihrer kleinen Schwester war genauso sarkastisch ausgefallen wie sie erwartet hatte.В  Denn natГјrlich konnte sich Naomi nicht einfach mit ihr freuen oder stolz auf sie sein, weil sie auf dem besten Weg war, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Hast du das mit Photoshop bearbeitet? fragte ihre Mutter einen Augenblick später.

Lacey rollte mit den Augen und steckte ihr Smartphone wieder weg. Sie nahm sich vor, sich von niemandem die Laune verderben zu lassen und atmete tief ein, um sich wieder ein wenig zu beruhigen. Dabei war sie ein weiteres Mal erstaunt Гјber den Unterschied zwischen der wunderbar frischen Luft hier und der verschmutzten Luft, die sie noch heute Morgen in New York eingeatmet hatte.

Sie ging weiter die Straße hinab, wobei ihre Absätze auf dem Kopfsteinpflaster ein klapperndes Geräusch machten.

Ganz oben auf ihrer To-do-Liste stand, ein Hotelzimmer für die ihr selbst noch unbekannte Zeit ihres Aufenthalts hier zu finden. Also blieb sie vor dem ersten B&B, das auf ihrem Weg lag, stehen. Es hieß „The Shire“, doch leider war es, wie auf einem in einem seiner Fenster stehenden Schild zu lesen war, „belegt“. Aber das machte ihr nichts aus. Denn die Hauptstraße war lang und wenn Lacey sich recht erinnerte, dann lagen noch einige andere Pensionen, bei denen sie ihr Glück versuchen konnte, vor ihr.

Das nächste B&B – es hieß „Laurel’s“ – war ganz in Zuckerwatte-Pink gehalten, aber ebenfalls „ausgebucht“. Nur, dass die Erkenntnis, dass sie auch hier nicht unterkommen würde, anders als beim ersten „belegten“ B&B, bei Lacey inzwischen schon eine Art leichter Panik auslöste.

Sie kämpfte die Panik nieder und sagte sich tapfer, dass diese nur daher kam, dass ihre Familie ihr ihren Trip hierher so madig gemacht hatte. Sie musste keine Angst haben. Denn sie würde ganz sicher bald ein Zimmer finden.

Sie ging weiter. Das zwischen einem Juwelier und einem Buchladen gelegene Seaside Hotel war „ausgebucht“ und auch das nächste nach einem Laden für Campingbedarf und einem Schönheitssalon auf ihrem Weg Carol�s B’n’B war belegt. Und das ging immer so weiter bis Lacey schließlich am Ende der Straße angekommen war.

Jetzt wurde Lacey langsam wirklich panisch. Wie hatte sie nur so dumm sein können hierher zu kommen, ohne auch nur die allerwichtigsten Vorbereitungen für ihren Aufenthalt zu treffen? Alles Mögliche zu organisieren war das A & O in ihrem Beruf gewesen und jetzt stand sie da und hatte nichts, aber auch gar nichts, für ihren eigenen Urlaub vorbereitet! Sie hatte so gut wie nichts dabei und noch nicht einmal ein Zimmer. Hieß das jetzt, dass sie die Straße wieder hochgehen, weitere zweihundert  Pfund für ein Taxi zurück nach Heathrow ausgeben und den nächsten Flug nach Hause nehmen musste? Kein Wunder, dass David sie bei ihrer Scheidung auf Unterhalt verklagt hatte, denn anscheinend konnte sie überhaupt nicht mit Geld umgehen!

Lacey drehte sich um und betrachte niedergeschlagen den sich vor ihren Augen auftuenden Rückweg, ganz so, als wäre es möglich, allein durch ihr hilfloses Herumschauen ein weiteres B&B herbeizaubern, das ihr bisher entgangen war. Erst durch dieses ängstliche Herumschauen bemerkte Lacey, dass das letzte Haus am Ende der Straße, vor dem sie sich gerade befand, tatsächlich ein Gasthaus war. Es hieß „The Coach House“.

Obwohl Lacey sich ziemlich blöd dabei vorkam, sammelte sie sich und klärte ihre Stimme. Dann betrat sie das Gasthaus, das mit seinen großen Holztischen, der als Speisekarte dienenden Schiefertafel und dem unvermeidlichen, in einer Ecke stehenden Spielautomaten das Urbild eines Pubs abgab. Sie ging an die Bar, hinter der man bis zum Anschlag mit Weinflaschen gefüllte Glasvitrinen und eine Menge Flaschen, die Schnäpse in allen möglichen Farben enthielten, sehen konnte. Das Ganze wirkte ziemlich altmodisch. Und es gab sogar den sprichwörtlichen alten Trinker, der an der Bar eingeschlafen war und  seinen Kopf auf seine verschränkten Arme gebettet hatte.

Hinter der Bar stand ein dünnes Mädchen mit hellblondem Haar, das auf ihrem Kopf zu einem unordentlichen Knoten geschlungen war. Sie wirkte viel zu jung, um an einer Bar zu arbeiten. Doch dann dachte Lacey, dass ihr die Barfrau wohl nur so jung erschien, weil man in England schon früher mit dem Alkoholkonsum anfangen durfte als in Amerika als deswegen, weil sie langsam in das Alter kam, in der ihr alle anderen viel zu jung vorkamen.

„Was darf es für Sie sein?“ fragte die Barfrau.

„Ein Zimmer und ein Glas Prosecco“, antwortete Lacey.

Ihr war irgendwie nach Feiern zumute.

Doch die Barfrau schüttelte den Kopf und sagte mit einem so weit geöffneten Mund, dass man den Kaugummi zwischen ihren Zähnen sehen konnte: „Wir sind über Ostern ausgebucht. Übrigens genauso wie alle anderen Unterkünfte in der Stadt auch. Denn wegen der Schulferien machen viele Familien Urlaub hier bei uns in Wilfordshire. Mindestens für die nächsten zwei Wochen geht da zimmermäßig gar nichts mehr.“ Nach einer kleinen Pause fragte sie: „Also dann nur einen Prosecco?“

Lacey musste sich an der Bar festhalten, um nicht umzukippen. Ihr Magen rotierte. Jetzt glaubte sie endgültig, die dümmste Frau der Welt zu sein. Inzwischen wunderte es sie gar nicht mehr, dass David sie verlassen hatte. Denn sie war einfach das personifizierte Chaos. Eine Schande für die ganze Menschheit. Da stand sie nun und tat so, als wäre sie ein erwachsener Mensch, der zu selbstständigem Handeln in der Lage war, und dabei konnte sie sich nicht einmal ein Hotelzimmer organisieren.

In diesem Moment sah Lacey jemanden von der Seite her auf sie zukommen. Als sie sich umdrehte, stellte sich dieser jemand als ein Mann von etwas Гјber 60 Jahren heraus, der ein in seine Jeans gestecktes Hemd mit Gingham-Muster sowie eine von seinem GГјrtel baumelnde Handy-GГјrteltasche trug und sich eine Sonnenbrille auf seinen Glatzkopf gesteckt hatte.

„Habe ich richtig verstanden, dass Sie eine Unterkunft suchen?“ fragte er sie.

Lacey wollte gerade sagen, dass dem nicht so sei – denn so verzweifelt sie auch sein mochte, war es eher Naomis Stil mit einem Mann mitzugehen, der doppelt so alt war wie sie und sie noch dazu in einer Bar angesprochen hatte. Doch dann sagte der Mann: „Ich vermiete nämlich Ferienhäuser.“

Sie war so überrascht, dass sie nur ein erstauntes „Oh?“ als Antwort hervorbrachte.

Der Mann nickte und zog eine kleine Visitenkarte aus seiner Jeanstasche hervor, die Lacey schnell Гјberflog. Da stand:

Ivan Parrys gemütliche, rustikale, einfach zauberhafte Ferienhäuser Die ideale Unterkunft für die ganze Familie!

„Wie Brenda schon sagte bin auch ich ausgebucht“, fuhr Ivan mit einem kurzen Nicken in Richtung der Barfrau fort. „Bis auf ein Haus, das ich gerade bei einer Auktion ersteigert habe. Eigentlich ist es noch nicht so weit hergerichtet, dass man es vermieten könnte, aber wenn Sie wirklich nichts anderes haben, dann zeige ich es ihnen gerne. Weil es noch nicht so tipptopp in Schuss ist, würde ich es Ihnen zu einem günstigen Preis vermieten – nur so als Zwischenlösung, bis Sie in einem Hotel unterkommen können.“

Lacey fühlte sich unglaublich erleichtert. Die Visitenkarte sah echt aus und Ivan kam ihr auch nicht vor wie ein Typ, der darauf aus war, jemanden abzuschleppen. Endlich schien das Glück ihr wieder hold zu werden! Sie war so erleichtert, dass sie Ivan am liebsten einen Kuss auf seinen kahlen Schädel gedrückt hätte!

„Sie haben mir gerade das Leben gerettet“, sagte sie stattdessen.

Ivan errötete. „Warten Sie mit Ihrem Lob besser erst mal ab, bis Sie das Haus besichtigt haben.“

Lacey kicherte. „So schlimm kann es gar nicht sein.“


*

Lacey keuchte wie ein Ackergaul als sie neben Ivan her den steilen Abhang erklomm.

„Ist Ihnen der Weg hier herauf zu steil?“ fragte er besorgt. „Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass das Haus auf der Klippe liegt.“

„Kein Problem,“ keuchte Lacey. „Ich – liebe – die Aussicht – aufs Meer.“

Während des ganzen Weges hier herauf hatte Ivan sich als das komplette Gegenteil eines ausgebufften Geschäftsmannes erwiesen, hatte er Lacey doch immer wieder versichert, dass er ihr einen schönen Nachlass auf den Mietpreis für das Haus (den sie im Übrigen noch gar nicht ausgehandelt hatten) gewähren würde und sie gebeten. sich keine allzu großartigen Vorstellungen von dem Haus zu machen. Jetzt, wo ihr ihre Oberschenkel vom Aufstieg hier herauf ziemlich weh taten, fragte sie sich allerdings schon, ob er mit seinen Warnungen vielleicht doch recht gehabt hatte.

Ihre Zweifel fanden jedoch ein jähes Ende, als das auf dem Gipfel der Anhöhe liegende Haus in Sichtweite kam. Denn da stand es nun also als schwarze Silhouette gegen die langsam verblassenden Rosatöne des Sonnenunterganges: ein großes Steinhaus.

Lacey schnappte hörbar nach Luft.

„Ist es das?“ fragte sie immer noch atemlos.

„Das ist es“, antwortete Ivan.

Ein plötzlicher, unerwarteter Energieschub ermöglichte es Lacey, den Rest der Anhöhe auf einmal zu nehmen. Mit jedem Schritt, den sie näher an dieses hinreißende Haus herankam  entdeckte sie etwas anderes an diesem, das sie begeisterte, angefangen von der hübschen steinernen Fassade über das mit Schiefer gedeckte Dach und die Rosenstaude, die sich um die hölzernen Pfeiler der Veranda rankte, bis hin zu der massiven alten Haustür, die aussah als wäre sie der Illustration eines Märchenbuches entsprungen. Und als Sahnehäubchen zu dem Ganzen hatte man von hier aus auch noch einen überwältigenden Blick auf das glitzernde, leise vor sich hin rauschende Meer.

Mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund nahm Lacey die letzten Schritte bis zu dem Haus sozusagen im Galopp. Neben der TГјr desselben hing ein Schild, das es als Crag Cottage auswies.

Ivan, der inzwischen neben ihr aufgetaucht war, zog einen groГџen SchlГјsselbund hervor und durchsuchte diesen mit ziemlichem Klappern nach dem richtigen SchlГјssel fГјr das vor ihnen stehende Haus. Lacey kam sich vor wie ein Kind, das ungeduldig von einem FuГџ auf den anderen tretend vor einem Eiswagen stand und darauf wartete, dass die Softeismaschine endlich seine Portion Eis ausspuckte.

„Erwarten Sie bloß nicht zu viel“, sagte Ivan zum gefühlt tausendsten Mal als er endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte, der übrigens – groß und aus inzwischen rostiger Bronze gefertigt wie er war – nicht nur aussah, als gehöre er zum Schloss von Rapunzel, sondern auch perfekt zu dem Haus passte. Endlich war es soweit: Ivan steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und schob die Tür des Hauses auf.

Keine Sekunde später stand Lacey schon mitten in dem Haus und fühlte sich sofort wie zuhause darin.

Den Korridor mit seinen Bohlen aus unbearbeitetem Holz und seinen verblassten Chintztapeten konnte man – wohlwollend formuliert – nur als rustikal bezeichnen. Und die Mitte der zu Laceys rechten nach oben führenden Treppe war mit einem plüschigen roten Läufer ausgelegt, der an den Seiten von goldfarbenen Teppichstangen begrenzt wurde, ganz so als befände man sich in einem herrschaftlichen Gebäude und nicht nur in einem netten, altmodischen Landhaus.

Zu Laceys linker Seite gab es eine TГјr, die offen stand und sie dadurch geradezu dazu einlud, das dahinter liegende Zimmer zu betreten.

„Wie ich schon gesagt habe, ist das Haus in keinem besonders guten Zustand“, sagte Ivan als Lacey das Zimmer betrat.

Bei dem betreffenden Raum handelte es sich um das Wohnzimmer des Hauses. Drei der vier Wände des Raums waren mit einer verblassten, mintgrün und weiß gestreiften Tapete beklebt und die vierte Wand war gar nicht tapeziert, sondern zeigte sich in ihrem Rohzustand, also als rote Backsteinwand. Von dem großen Erkerfenster des Raums aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Ozean, den man ganz bequem von der unter dem Fenster angebrachten Sitzgelegenheit aus betrachten konnte. Eine Ecke des Raums wurde von einem Holzofen mit einem langen Abzugsrohr eingenommen, neben dem noch ein mit Holscheiten gefüllter silberner Eimer bereitstand. Außerdem gab es ein großes, hölzernes Bücherregal, das fast eine ganze Wand des Zimmers für sich beanspruchte, sowie eine anscheinend aus den 1949iger Jahren stammende Sitzgarnitur, die aus einem Sofa und einem dazu passenden Lehnstuhl mit Fußbank bestand. Zwar musste das ganze Zimmer einschließlich der Möbel einmal gründlich abgestaubt werden, doch das trug für Lacey nur noch mehr zum Charme des Hauses bei.

Sie drehte sich zu Ivan um, der sich wegen ihres bevorstehenden Urteils Гјber das Haus nicht recht wohl in seiner Haut zu fГјhlen schien.

„Ich liebe es!“ sprudelte es aus ihr heraus.

Nach dieser Ansage wirkte Ivan ziemlich überrascht und – wie Lacey feststellte – auch ein wenig stolz.

„Oh!“ entfuhr es ihm. „Wie schön!“

Lacey war nicht mehr zu bremsen. Voller Enthusiasmus lief sie im Wohnzimmer herum und sah sich alles genau an. Auf dem mit gekonnten Schnitzereien verzierten Bücherregal fand sie ein paar Kriminalromie so alt waren, dass ihre Seiten schon verknittert waren. Auf dem darunter liegenden Regalbrett standen eine Sparbüchse aus Porzellan in der Form eines Schafes sowie eine Uhr, die schon vor längerer Zeit stehengeblieben zu sein schien. Und auf dem obersten Regalbrett fand sich ein Sammelsurium von aus feinstem Porzellan gefertigten Teekannen. Das Zimmer war soweit ein einziger Traum für Antiquitätenliebhaber.

„Kann ich mir auch den Rest des Hauses ansehen?“ fragte Lacey überglücklich.

„Gerne doch,“ antwortete Ivan. „Ich gehe inzwischen in den Keller und kümmere mich um die Heizung und den Wasseranschluss.“

Sie traten in den kleinen, dunklen Flur hinaus und während Ivan durch eine Tür nach unten verschwand, ging Lacey freudig gespannt weiter in Richtung der Küche des Hauses.

Dort angekommen schnappte sie nach Luft. Die Küche sah aus als wäre sie einem Museum, das seinen Schwerpunkt auf das viktorianische Zeitalter gelegt hatte, entsprungen. Es gab einen echten schwarzen Aga-Herd, über dem kupferne Töpfe und Pfannen von der Decke  herabhingen und in der Mitte des Raums stand ein großer, viereckiger Metzgerblock. Durch die Fenster der Küche sah man auf eine große Rasenfläche hinaus. Hinter diesen eleganten Fenstertüren lag ein Innenhof, in dem ein klappriger Tisch und ein ebenso klappriger Stuhl standen. Lacey konnte sich gut vorstellen, dort zu sitzen, frische Croissants vom Bäcker zu essen und dazu biologisch produzierten peruanischen Kaffee aus dem Coffeeshop ihres Vertrauens zu trinken.

Plötzlich wurde Lacey von einem lauten Schlag aus ihren Träumereien gerissen. Der Knall kam von unten herauf und war so laut, dass er sogar die Dielenbretter unter Laceys Füßen zum Vibrieren brachte.

Lacey rief nach Ivan und fragte diesen, ob bei ihm alles in Ordnung sei.

Durch die offene Kellertür gab Ivan erst einmal Entwarnung. „Das waren nur die Rohre. Wie es aussieht, sind die schon ein paar Jahre lang nicht benutzt worden. Es könnte also ein wenig dauern, bis sie wieder funktionieren.“

Auf diese Worte folgte ein weiterer lauter Knall, der Lacey zwar zuerst erschreckte, ihr aber – jetzt, wo sie die Ursache dafür kannte – keine Angst mehr einjagte, sondern sie stattdessen sogar zum Lachen brachte.

Ivan kam die Kellertreppe herauf.

„Soweit ist alles okay. Ich hoffe nur, dass die Rohre bald gerichtet werden können“, meinte er verdrießlich.

Lacey schüttelte den Kopf. „Ich finde so etwas macht ein altes Haus wie dieses nur noch charmanter,“

„Dann können Sie von mir aus so in dem Haus wohnen bleiben wie nötig“, sagte er. „Ich halte aber die Ohren offen und gebe Ihnen Bescheid, wenn eines der Hotels ein Zimmer für Sie frei hat.“ Dann fragte er mit dem für ihn typischen schüchternen Lächeln: „Sind zehn Pfund pro Nacht für sie okay?“

Lacey zog die Augenbrauen hoch. „Zehn Pfund – das sind doch ungefähr 12 Dollar?“

„Ist Ihnen das zu viel?“ fragte Ivan mit inzwischen vor Verlegenheit flammend roten Backen. „Wie wäre es dann mit fünf Pfund?“

„Nein, zehn Pfund sind zu wenig!“ rief Lacey, die sich durchaus bewusst war, dass sie ihn gerade hinauf statt hinunter handelte. Doch das Haus zu dem lächerlich niedrigen Preis, den er verlangte, zu mieten käme ihr fast so vor wie Diebstahl. Und Lacey würde den Teufel tun und diesen furchtbar netten, unbeholfenen Mann, der sie vor ihrem Malheur mit dem fehlenden Zimmer bewahrt hatte, über den Tisch ziehen.

„Das Haus ist historisch und hat zwei Schlafzimmer. Es eignet sich ideal für Familien. Und nach einem gründlichen Hausputz können Sie es bestimmt für ein paar hundert Pfund pro Nacht vermieten.“

Ivan war so verlegen, dass er nicht wusste, wo er hinsehen sollte. Über Geld zu sprechen bereitete ihm sichtlich Unbehagen, was ihn in Laceys Augen nicht gerade dazu befähigte, ausgerechnet als Geschäftsmann tätig zu sein. Sie hoffte nur, dass seine Mieter ihn nicht andauernd über den Tisch zogen.

„Dann sagen wir eben fünfzehn Pfund pro Nacht,“ schlug Ivan vor. „Und ich schicke Ihnen jemand zum Saubermachen vorbei.“

„Zwanzig Pfund“, antwortete Lacey. „Und das Saubermachen übernehme ich selbst.“ Sie grinste und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Jetzt brauche ich nur noch den Schlüssel. Ich lasse kein „Nein“ gelten.“.

Inzwischen erstreckte sich das verlegene Rot auf Ivans Wangen schon bis zu seinen Ohren und über seinen Hals. Zur Bestätigung ihres Deals nickte er nur und legte den bronzenen Schlüssel in Laceys ausgestreckte Hand.

„Meine Telefonnummer steht auf meiner Visitenkarte. Rufen Sie mich an falls irgendetwas am Haus nicht funktioniert – oder besser: wenn etwas nicht funktioniert.“

„Danke“, sagte Lacey, die ihm tatsächlich sehr dankbar war, mit einem leisen Kichern.

Ivan machte sich auf den Weg.

Endlich allein ging Lacey wieder nach oben, um ihre Erkundungstour fortzusetzen. Das Elternschlafzimmer lag nach vorne hinaus und verfügte über Meerblick und einen Balkon. Auch dieses Zimmer mit seinem großen, aus dunklem Eichenholz gefertigten Bett, das auf vier soliden Pfosten stand und dem dazu passenden riesigen Kleiderschrank, der aussah als wäre er der Eingang in das fiktive Land Narnia, hätte jedem Museum Ehre gemacht. Das zweite Schlafzimmer lag auf der Rückseite des Hauses und damit auf den Garten hinaus. Badezimmer und Toilette waren getrennt, wobei die Toilette nicht viel größer als ein Schrank war. Das Badezimmer bestand mehr oder weniger nur aus einer auf bronzenen Füßen stehenden, weißen Badewanne mit hoher Rückenlehne und einer Abdeckung über ihrem unteren Teil. Es gab keine extra Dusche, sondern nur eine Duschvorrichtung in der Wanne.

Wieder zurück im Elternschlafzimmer ließ Lacey sich aufs Bett fallen. In diesem Moment kam sie endlich einmal dazu, über den zurückliegenden, ziemlich ereignisreichen Tag nachzudenken und merkte erst jetzt, wie erledigt sie war. Heute Morgen war sie noch eine seit vierzehn Jahren verheiratete Frau gewesen. Inzwischen war sie alleinstehend. Heute Morgen war sie noch eine vielbeschäftigte New Yorker Geschäftsfrau gewesen. Und nun saß sie hier, in einem auf einer Klippe stehenden Landhaus in England. Wie aufregend das alles war! Und wie spannend!  Noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben hatte sie etwas getan, das so viel Mut erforderte – und es fühlte sich einfach grandios an!

Die Rohre gaben wieder einmal einen lauten Knall von sich, was Lacey erst einmal zu einem erschreckten Quietschen veranlasste. Doch nur einen Augenblick später lachte sie bereits laut über ihre Schreckhaftigkeit.

Sie legte sich zurück, so dass sie zu dem über dem Bett angebrachten Baldachin hinaufsah und lauschte dem Rauschen der Wellen, die sich an dem Kliff brachen. Dieses Geräusch versetzte sie in ihren Gedanken wieder in ihre Kindheit zurück, denn sie hatte schon damals davon geträumt, einmal am Meer zu leben. Heute kam es ihr seltsam vor, dass dieser Traum so lange verschüttet gewesen war. Wenn sie nicht nach Wilfordshire zurückgekommen wäre, wäre der Traum dann komplett in Vergessenheit geraten? Inzwischen fragte sie sich, ob da noch andere verschüttete Erinnerungen waren, die nur darauf warteten, während ihres Aufenthalts hier wieder ans Licht zu kommen. Vielleicht würde sie morgen früh, gleich nach dem Aufstehen, eine Erkundungstour durch den Ort unternehmen und sehen, welche Erinnerungen dabei zu Tage kommen würden.




KAPITEL DREI


Lacey wurde von einem seltsamen Geräusch geweckt.

Zwar saГџ sie sofort aufrecht im Bett, wusste aber nicht gleich, wo sie sich befand, nicht zuletzt, weil der Lichtstrahl, der durch einen Spalt im Vorhang ins Zimmer drang, ziemlich dГјnn war. So dauerte es ein paar Sekunden, bis ihr bewusstwurde, dass sie sich nicht in ihrem Apartment in New York befand, sondern in einem steinernen Cottage, das auf den Klippen des OrtesВ В В  Wilfordshire, England, stand.

Da war das Geräusch wieder. Dieses Mal handelte es sich nicht um ein Klappern in den Rohren, aber trotzdem hörte es sich an wie etwas ganz Grundlegendes, ja irgendwie fast Animalisches. Mit einem schlaftrunkenen Blick auf ihr Handy stellte sie fest, dass es hier 5 Uhr morgens war. Seufzend hievte sie ihren geräderten Körper aus dem Bett. Der Jetlag machte sich bei jedem ihrer schwerfälligen Schritte, die sie in Richtung des Balkons machte, um die Vorhänge aufziehen zu können, bemerkbar. Als sie die Vorhänge geöffnet hatte, sah sie nur bis zu dem Punkt, an dem die Klippe zum Meer hin abfiel und dahinter kam schon der Ozean, der sich bis zu einem wolkenlosen, langsam hell werdenden und dabei schon erkennbar makellos blauen Horizont. Obwohl auf dem Rasen vor dem Haus kein tierischer Krachmacher zu sehen war, war das Geräusch noch da. Wenigstens konnte Lacey inzwischen ausmachen, dass es von der hinteren Seite des Hauses kam.

In dem Kleid, das sie noch in der letzten Minute vor ihrem Abflug am Flughafen erstanden hatte, trottete Lacey die unter ihren Schritten quietschende Treppe hinunter, um zu erkunden woher das Geräusch kam. Sie marschierte ohne zu zögern direkt zur Rückseite des Hauses, deren großes Fenster und Fenstertüren ihr einen guten Blick auf den Rasen hinter dem Haus ermöglichten. Und tatsächlich konnte sie von dort aus den Ursprung des Geräusches erkennen.

In ihrem Garten graste eine ganze Schafherde.

Lacey zwinkerte ungläubig. Das waren bestimmt mindestens fünfzehn Schafe! Oder zwanzig, Oder sogar noch mehr!

Sie rieb sich die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, waren die flauschigen Gesellen immer noch da und hielten sich genüsslich an ihrem Gras schädlich. Dann hob eines der Tiere seinen Kopf.

So kam es, dass Lacey und das Schaf sich in die Augen sahen, ja sozusagen sogar versuchten, sich gegenseitig niederzustarren, bis das Schaf schließlich aufgab und ein langes, klagendes Blöken von sich gab.

Lacey musste unwillkürlich kichern. Sie konnte sich keine bessere Art vorstellen, ihr neues Leben ND zu beginnen. Plötzlich fühlte sich ihr Aufenthalt hier in Wilfordshire weniger wie ein Urlaub an, als vielmehr wie ein gut durchdachter Akt des Willens, eine Rückkehr zu sich selbst oder gar wie das Bekenntnis zu neuen, ihr bisher gänzlich unbekannten Seiten ihres Wesens.

Was immer es auch sein mochte, kam es Lacey vor als rumorten jede Menge sprudelnde Bläschen, etwa wie die, die man von Champagner her kennt, in ihrem Magen herum (vielleicht war dieses seltsame Gefühl aber auch einfach immer noch auf ihren Jetlag zurückzuführen, obwohl sie sich – jedenfalls laut ihrer inneren Uhr – doch gerade erst eine großzügig bemessene Portion Schaf gegönnt hatte). Doch wie dem auch war, brannte Lacey nur so darauf, den neuen Tag zu beginnen.

Denn auf einmal sehnte sich Lacey nach Abenteuern. War sie gestern noch von dem ihr nur allzu vertrauten Verkehrslärm von New York City geweckt worden, so hatte sie heute das dauernde Blöken einer Schafherde aus dem Schlaf gerissen. Hatte sie gestern als erstes den Duft von frischer Wäsche und Putzmitteln in der Nase gehabt, so roch es hier und heute nach Staub und nach Meer. Sie hatte mal eben ihr altes, gewohntes Leben in Scherben gelegt. Als seit neuestem wieder alleinstehende Frau schien ihr die ganze Welt zu Füßen zu liegen. Und sie wünschte sich nichts mehr als diese zu erkunden! Neues zu entdecken! Dazuzulernen! Plötzlich fühlte sie einen Enthusiasmus in sich, den sie nicht mehr gehabt hatte seit…ja, eigentlich seit ihr Vater die Familie verlassen hatte.

Lacey schГјttelte den Kopf. Sie wollte sich jetzt nicht mit traurigen Dingen befassen. Sie wollte alles tun, um sich ihre neu gewonnene Lebensfreude zu erhalten. Wenigstens fГјr heute. Sie wollte dieses GefГјhl festhalten und nie mehr loslassen. Heute war sie frei.

Um sich von dem inzwischen nagenden Hungergefühl in ihrem Bauch abzulenken, unternahm sie einen Versuch, sich in ihrer großen, altmodischen Wanne zu duschen. Das bedeutete sie nahm die seltsame, an den Wasserhähnen angebrachte, schlauchähnliche Konstruktion und spritze sich damit ab, wie man es sonst vielleicht mit einem dreckigen Hund tun würde. Zwar wurde das zuerst noch warme Wasser von jetzt auf gleich eiskalt und dazu gaben die Rohre die ganze Zeit über das ihr bereits bekannte Klappern von sich, doch hatte diese Dusche auch gute Seiten. Denn das im Vergleich zu dem harten Wasser, das Lacey aus New York gewöhnt war, unglaublich weiche Wasser hier fühlte sich auf ihrer Haut fast wie eine teure Feuchtigkeitslotion an, was Lacey sehr genoss, auch wenn der plötzliche Temperatursturz des  Wassers sie dazu brachte, vor Kälte mit den Zähnen zu klappern.

Nachdem sie sich die Ausdünstungen des Flughafens sowie den Schmutz der Großstadt von ihrer jetzt – sogar im eigentlichen Sinn des Wortes – strahlenden Haut gespült hatte trocknete sie sich ab und zog die Sachen an, die sie am Flughafen gekauft hatte. An der Innenseite des riesigen Schlafzimmerschrankes war ein Spiegel angebracht, in dem sie sich in ihrem neuen Outfit betrachten konnte. Doch dieses gefiel ihr ganz und gar nicht.

Lacey zog eine Schnute. Sie hatte die Kleidungsstücke in der Annahme, Freizeitklamotten wären wohl die beste Wahl für ihren Urlaub in einem Badeort, in einem Laden für Strandbekleidung am Flughafen erstanden. Aber während sie sich eigentlich legere Kleidung für den Strand vorgestellt hatte, sah ihr neues Outfit eher aus wie Klamotten aus einem Secondhand-Laden. Die beigen Slacks saßen ein wenig zu eng, dafür war das weiße Baumwollshirt so weit, dass sie förmlich darin verschwand und die schlampig verarbeiteten Bootsschuhe eigneten sich wahrscheinlich noch schlechter zum Laufen auf Kopfsteinpflaster  als die Stöckelschuhe, die sie normalerweise immer auf Arbeit getragen hatte! Aus diesem Grund würde sie sich heute wohl gleich als erstes nach ein paar besser passenden Klamotten umsehen müssen.

In Laceys Bauch grummelte es noch immer.

Du bist dann als nächstes dran, dachte sie und rieb sich den Magen.

Ohne darauf zu achten, dass ihr Haar so nass war, dass ihr das Wasser den Rücken hinunterlief ging Lacey nach unten und in die Küche, wo sie bei einem Blick aus dem Fenster feststellte, dass von der Schafherde, die heute Morgen in ihrem Garten herumgestanden hatte, nur noch ein paar Tiere übriggeblieben waren. Weder ihre Suche in den Küchenschränken noch im Kühlschrank förderte irgendetwas essbares zu Tage. Aber es war auch noch zu früh, um in den Ort hinunter zu gehen und sich ein paar Leckereien aus der Patisserie auf der Hauptstraße zu holen. Bis diese aufmachte würde sie wohl noch etwas Zeit totschlagen müssen.

„Zeit totschlagen!“ rief Lacey überglücklich aus.

Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal Zeit totschlagen müssen? Wann hatte sie das letzte Mal die Freiheit gehabt, einfach mal herumzubummeln und nichts zu tun? David hatte immer sehr darauf geachtet, dass sie das Beste aus ihrer wenigen Freizeit herausholten. Da hieß es dann: ab ins Fitnessstudio, zum Brunchen, zu Unternehmungen mit ihren Familien oder auf einen Drink. Jede „freie“ Minute war durchgetaktet gewesen. Plötzlich fiel es Lacey wie Schuppen von den Augen, wie absurd es war, Pläne für seine freie Zeit zu schmieden, denn durch diese Planung war diese Zeit ja dann gar nicht mehr frei! Dadurch, dass sie es David überlassen hatte, nach Gutdünken über ihrer beider Zeit zu verfügen, hatte sie sich freiwillig in eine Zwangsjacke aus sozialen Verpflichtungen begeben. Diese Erkenntnis fühlte sich fast an wie eine buddhistische Erleuchtung.

Der Dalai Lama wäre bestimmt stolz auf mich, dachte Lacey und klatschte dabei vergnügt in die Hände. In diesem Moment begannen die in ihrem Garten verbliebenen Schafe wieder zu blöken. Das brachte Lacey auf die Idee, sie könne ihre neu gewonnene Freiheit dafür nutzen Detektiv zu spielen und herauszufinden, wo die Tiere hingehörten.

Sie öffnete die Fenstertüren und trat in den Hof hinaus. Auf ihrem Weg durch den Garten in Richtung der beiden Wollknäuel, die sich noch immer an ihrem Rasen gütlich taten, wurde ihr Gesicht von einem vom Meer herüber wehenden, wunderbar erfrischenden Sprühnebel benetzt.

Als die Schaffe hörten, dass sie sich ihnen näherte trotten sie schwerfällig und ohne jede Grazie davon und verschwanden durch eine Lücke in der Hecke.

Lacey marschierte ebenfalls zu dieser Lücke im Gestrüpp hinüber und warf einen neugierigen Blick durch diese, bei dem sie jenseits des Gebüschs einen mit bunten Blumen bestandenen Garten entdeckte. Also hatte sie wohl einen Nachbarn. Zu ihren Nachbarn in New York hatte sie keinen Kontakt gehabt, denn diese waren wohl – wie David und sie auch – zum größten Teil berufstätige Paare gewesen, die morgens das Haus verließen und erst spät abends wieder dorthin zurückkamen. Aber die Nachbarn hier schienen es, wie ihr gepflegter Garten vermuten ließ, etwas ruhiger angehen zu lassen. Und sie hielten sogar Schafe! Wo Lacey früher gewohnt hatte, hatte es, soweit sie wusste, kein einziges Tier gegeben, denn schließlich hatten vielbeschäftigte Yuppies, wie David und sie oder ihre früheren Nachbarn keine Zeit, um sich Haustiere zu halten, geschweige denn Lust dazu, sich mit deren überall in der Wohnung herumliegenden Haaren und anderen Hinterlassenschaften  zu belasten. Wie schön war es dagegen, dass sie jetzt mitten in der Natur lebte! Ja sie empfand sogar den Geruch von Schafmist als eine willkommene Abwechslung zu dem sterilen Appartementhaus in NYC, in dem sie bis vor kurzem gewohnt hatte.

Als sie sich wieder aufrichtete fiel Laceys Blick auf ein StГјck Rasen, das weniger grГјn war als der Rest des Grases, sondern eher wie ein viel benutzter Trampelpfad wirkte. Dieser Pfad fГјhrte am Rande des GebГјsches entlang bis zum Rand der Klippe, wo sie ein fast ganz von Pflanzen zugewachsenes Tor erkennen konnte. Sie ging zu dem Tor und Г¶ffnete es.

Vor ihr lag eine grob in die Klippe geschlagene Treppe, die bis zum Strand hinunterführte. Vorsichtig machte Lacey sich daran, die Stufen, die ihr vorkamen als seien sie direkt einem zauberhaften Märchen entsprungen, hinunterzugehen.

Ivan hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie falls sie sich einmal danach sehnte Sand zwischen ihren Zehen zu spüren, dieses Verlangen innerhalb von wenigen Minuten schnell stillen könne, einfach weil es einen direkten Weg von ihrem Haus zum Strand gab. Und in New York hatte sie sich noch etwas darauf eingebildet, dass sie von zu Hause aus nur zwei Minuten Fußweg bis zur nächsten U-Bahn-Haltestelle hatte.

Inzwischen hatte Lacey das Ende der unebenen Stufen erreicht und war damit nur wenige Meter vom Strand entfernt. Sie sprang auf diesen hinab. Der Sand war so weich, dass ihre Knie den Aufprall auf dem Strand locker wegsteckten – und das obwohl ihre billig am Flughafen erworbenen Bootsschuhe diesen in keinster Weise abfedern konnten.

Lacey atmete tief durch und fühlte sich wild und völlig sorglos. Dieser Abschnitt des Strandes war menschenleer. Und unberührt. Lacey nahm an, dass dieses Stück vom Strand den meisten Leuten wohl zu weit von der Innenstadt und den dort befindlichen Läden entfernt lag, um sich dort hinaus zu begeben. Es war fast so als gehöre dieses Stück Strand nur ihr ganz allein.

Als Lacey zur Stadt hinüberschaute, sah sie den ins Meer hinausragenden Pier. Dieser Anblick weckte sofort Erinnerungen daran, wie sie und Naomi als Kinder dort gespielt hatten und ihr Vater ihnen erlaubt hatte, ihr Taschengeld in der dort gelegenen, gut besuchten Einkaufspassage auszugeben. Außerdem hatte es, wie Lacey sich jetzt – wie bei jedem zurückkommenden Stückchen Erinnerung freudig erregt – erinnerte, am Pier auch ein Kino gegeben. Mit seinen acht Sitzen war es ziemlich winzig gewesen und war seit seiner Gründung wohl auch so gut wie nie renoviert worden, denn seine wenigen Sitzplätze waren noch immer die ursprünglich eingebauten roten Plüschsessel gewesen. Ihr Vater hatte sie und Naomi mit in dieses Kino genommen, wo sie sich einen verworrenen japanischen Zeichentrickfilm angesehen hatten. Lacey fragte sich inzwischen, wie viele Erinnerungen ihr Ausflug nach Wilfordshire noch in ihr auslösen würde. Wie viele Erinnerungslücken würden sich während ihres Aufenthalts hier wohl noch schließen?

Da gerade Ebbe war, war viel vom Pier zu sehen. Lacey sah ein paar Leute, die mit ihren Hunden spazieren gingen und einige Jogger. Die Stadt erwachte langsam zum Leben.  Vielleicht hatte ja inzwischen der eine oder andere Coffeeshop schon geöffnet. Lacey beschloss, den längeren Weg in die Stadt zu nehmen, der am Strand entlangführte und ging los.

Je näher sie der Stadt kam, desto weniger Klippen säumten den Weg und desto mehr Straßen kreuzten ihren Weg. Die zweite dieser Straßen führte Lacey auf die Promenade. Dort überkam sie eine neue Erinnerung, in der sie einen Marktplatz voller mit Zeltplanen überdachten Ständen sah, in denen Kleidung, Schmuck und Steine verkauft wurden. Die jeweiligen Standplätze der Verkaufsstände waren an mit Farbe auf den Boden gespritzten Nummern zu erkennen. Wieder spürte sie Erregung in sich aufsteigen.

Lacey verließ den Strand und ging in Richtung der Hauptstraße der Stadt. Bevor sie in die mit Wimpeln geschmückte Straße einbog entdeckte sie das an der Ecke der Straße stehende Pub „Coach House“, in dem sie Ivan kennengelernt hatte..

Alles war hier anders als in New York. Die Uhren tickten hier um einiges langsamer. Es gab keine hupenden Autos. Keiner niemand drängelte oder rempelte andere Leute an. Und trotzdem hatten zu Laceys Überraschung schon einige Coffeeshops geöffnet.

Sie betrat den ersten, der auf ihrem Weg lag – auch hier stand niemand Schlange – und besorgte sich einen schwarzen Americano-Kaffee und ein Croissant. Der Kaffee war perfekt geröstet, sehr vollmundig und mit einem leichten Schokoladengeschmack; und das Croissant war außen knusprig und innen weich und schmeckte herrlich nach guter Butter.

Als ihr vorher hungriger Magen schließlich Ruhe gab, beschloss Lacey sich auf die Suche nach vernünftiger Kleidung zu machen. Sie hatte vorhin eine am anderen Ende der Hauptstraße gelegene, nett aussehende Boutique entdeckt und war auch schon auf dem Weg dorthin als sie von einem köstlichen Duft nach Zucker von ihrem Ziel abgelenkt wurde. Sie sah in die Richtung, aus der dieser Duft kam und entdeckte einen Laden für hausgemachte Toffees, der gerade aufgeschlossen worden war. Unfähig dem Duft zu widerstehen betrat sie den Laden.

„Möchten Sie etwas probieren?“ fragte sie der Mann, der eine weiß und rosa gestreifte Schürze trug. Dabei zeigte er auf ein silbernes Tablett, auf dem Würfel in verschiedenen Brauntönen zu sehen waren. „Wir haben dunkle Schokolade, Milchschokolade, weiße Schokolade, Karamell, Toffee, Kaffee, eine fruchtige Variante und das Original.“

Lacey riss erstaunt die Augen auf. „Kann ich sie alle probieren?“ fragte sie.

„Aber sicher!“

Der Mann schnitt von jedem der vor ihm liegenden Würfel ein kleines Stück ab und reichte diese Lacey zum Probieren. Schon beim ersten Biss auf eine der Kostproben explodierten ihr sämtliche Geschmacksnerven.

„Das ist wundervoll“, erklärte sie kauend.

Dann versuchte sie das nächste Stück. Und das schmeckte sogar noch ein wenig besser als das erste.

Sie probierte sich durch alle StГјckchen durch und fand dabei jedes einzelne immer noch besser als das StГјck davor.

Kaum hatte Lacey das letzte Stückchen vernascht, rief sie auch schon aus: „Ein paar dieser Dinger muss ich einfach meinem Neffen schicken. Meinen Sie die überstehen es, wenn ich sie nach New York schicke?“



Der Mann grinste und zog eine flache, mit Frischhaltefolie ausgekleidete Pappschachtel hervor. „Mit unserer speziellen Lieferschachtel klappt das schon“, meinte er lachend. „Wir hatten so viele ähnlich geartete Anfragen, dass wir extra diese Schachtel entworfen haben. Denn die ist nicht nur so schmal, dass sie in den Briefkasten passt, sondern auch so leicht, dass der Versand unserer Ware nicht viel Porto kostet. Die dafür nötigen Briefmarken bekommen Sie übrigens auch gleich hier bei uns.“

„Wie fortschrittlich“, sagte Lacey. „Sie haben wirklich an alles gedacht.“

Der Mann befüllte die Schachtel mit je einem Würfel jeder Geschmacksrichtung, umwickelte die flache Schachtel danach mit Paketband und frankierte sie mit den passenden Briefmarken. Nachdem Lacey bezahlt und sich bei dem Mann bedankt hatte nahm sie das Päckchen, schrieb Frankies Namen und Adresse auf dessen Vorderseite und warf es dann in den traditionell in Rot gehaltenen Briefkasten auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein.

Als das Päckchen im Briefkasten verschwunden war fiel Lacey wieder ein, was sie heute Morgen eigentlich vorgehabt hatte – nämlich sich bessere Klamotten zuzulegen. Sie machte sich gerade von Neuem auf die Suche nach einer Boutique als sie wieder abgelenkt wurde, dieses Mal von der Auslage des Ladens neben dem Briefkasten. Diese zeigte den Strand von Wilfordshire, einschließlich des ins Meer hinausragenden Piers. Das Besondere an dieser Szene war aber, dass sie komplett aus verschiedenfarbigen Macarons nachgebildet worden war.

Lacey bereute sofort, dass sie das Croissant gegessen und auch, dass sie die ganzen Toffees durchprobiert hatte, denn bei diesem köstlichen Anblick lief ihr gleich wieder das Wasser im Mund zusammen. Sie nahm ihr Handy und knipste ein Foto davon, das sie den „Doyle Girlz“ schicken wollte.

Plötzlich ertönte hörte irgendwo neben ihr eine Männerstimme, die fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“

Lacey richtete sich auf. Die Stimme war vom Eingang des Ladens gekommen und gehörte dem Besitzer desselben, einem sehr gut aussehenden Mann von etwa Mitte vierzig mit dunkelbraunem Haar und einem kantigen Kinn, der lässig in seinem Türrahmen lehnte. Er hatte leuchtend grüne Augen, die von Lachfältchen umgeben waren, was ihn als einen Mann auswies, der Spaß am Leben hatte. Und seine gesunde Bräune zeigte, dass er oft und gerne in wärmeren Gegenden der Welt unterwegs war.

„Ich schaue mir nur die Schaufenster an“, sagte Lacey mit ziemlich gepresster Stimme. „Und Ihres gefällt mir sehr gut.“

Der Mann lächelte. „Das habe ich selbst arrangiert. Kommen Sie doch rein und probieren ein paar meiner Kuchen.“

„Das würde ich gern tun, nur habe ich leider schon gegessen“, erklärte Lacey. Wie auf ihre Worte hin schienen das Croissant und der Kaffee sowie die ganzen Toffee-Kostproben in ihrem Magen anfangen zu rumoren und ihr eine leichte Übelkeit zu bereiten. Doch plötzlich wurde Lacey bewusst, was wirklich mit ihr los war: sie fühlte sich zum ersten Mal seit ewiger Zeit wieder einmal zu jemandem hingezogen und hatte sogar so etwas wie Schmetterlinge im Bauch! Sie fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden.

Der Mann lachte. „Ich erkenne an Ihrem Akzent, dass Sie Amerikanern sind. Deshalb wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass es hier bei uns in England etwas gibt, das wir den „Elf-Uhr-Snack“ nennen und der zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen liegt.“

„Das glaube ich Ihnen nicht“, antwortete Lacey, merkte aber, wie ihre Lippen wie von selbst zu lächeln begannen. Was soll denn so ein Elf-Uhr-Snack� sein?“

Der Mann legte sich die Hand auf sein Herz. „Ich verspreche Ihnen, dass das kein Werbe-Gag ist! Der ,Elf-Uhr-Snack� ist die perfekte Gelegenheit, um einen Tee zu trinken und ein Stück Kuchen, ein Sandwich oder ein paar Biskuits zu essen.“ Dabei zeigte er durch die geöffnete Tür seines Ladens in diesen hinein und in Richtung einer Glasvitrine, die mit kreativ gestalteten, sehr lecker aussehenden Süßigkeiten gefüllt war. „Oder man isst von jedem etwas.“

„Wichtig ist also nur, dass man Tee dazu trinkt“, witzelte Lacey.

„Ganz genau“, antwortete er mit vor Übermut glitzernden Augen. „Und bevor Sie etwas kaufen können Sie gerne alles durchprobieren.“

Laceys Widerstand schmolz dahin. Und sie wusste nicht so recht, ob dies daran lag, dass ihr Körper nach noch mehr Zucker verlangte, oder – was wahrscheinlicher war – an der  geradezu magischen Anziehungskraft, die dieses Bild von einem Mann auf sie ausübte. Aber wie dem auch war, betrat Lacey den Laden.

Voller Vorfreude und mit wachsendem Appetit beobachtete sie den Mann dabei, wie er der Kühlvitrine ein wie eine Semmel aussehendes süßes Gebäck entnahm, es mit Butter, Marmelade und Sahne bestrich und dann in vier ordentliche Stücke teilte. Das alles tat er ziemlich theatralisch und dabei trotzdem scheinbar ganz beiläufig, etwa so als übe er routinemäßig eine Folge von Tanzschritten. Er legte die Gebäckstücke auf einen kleinen Porzellanteller, und vollendete seine unbefangene Darbietung damit, dass er Lacey denselben auf seinen Fingerspitzen balancierend entgegenhielt.  „Et voilà.”



Laceys Backen wurden schon wieder heiГџ. Sein ganzes Benehmen war ihr vorgekommen als wolle er mit ihr flirten. Oder war das am Ende nur eine Art Wunschdenken ihrerseits?

Sie nahm sich eines der vier Gebäckstücke. Der Mann tat es ihr nach, wobei er sein Stück leicht gegen ihre stieß.

„Prost“, sagte er.

Auch Lacey brachte ein „Prost“ heraus.

Sie steckte das Gebäckstück in den Mund. Es war eine einzige Geschmackssensation. Eine üppige Schicht süßer Schlagsahne. Eine Schicht Erdbeermarmelade, die dem Ganzen eine gewisse Frische verlieh und damit ihre Geschmacksnerven in Schwingungen versetzte. Und erst das Gebäck selbst! Es war gehaltvoll und mit viel guter Butter gebacken und schmeckte nicht rein süß, sondern hatte auch eine leicht herzhafte Note – alles in allem war es einfach der perfekte Seelenwärmer.

Der Geschmack des Gebäcks löste bei Lacey plötzlich eine weitere Erinnerung aus. Dieses Mal sah sie sich, ihren Vater, Naomi und ihre Mutter an einem weißen Metalltisch in einem sonnenbeschienen Café sitzen und mit Schlagsahne und Marmelade gefüllte süße Teilchen essen. Diese Erinnerung war auf tröstliche Weise nostalgisch.

„Ich war schon mal hier!“ rief sie mit noch vollem Mund aus.

„Ach?“, antwortete der Mann belustigt.

Lacey nickte enthusiastisch. „Ich war als Kind nämlich schon einmal in Wilfordshire. Und das Gebäck hier nennt man ein Scone, oder?“

Mit echtem Interesse hob der Mann seine Augenbraue. „Das stimmt. Die Konditorei hat vor mir schon meinem Vater gehört und ich backe meine Scones noch immer nach demselben alten Familienrezept wie er.“

Lacey sah zum Fenster hinüber. Obwohl dort inzwischen eine Eckbank aus Holz mit  babyblauen Sitzkissen und ein dazu passender rustikaler Holztisch stand, konnte sie sich noch gut vorstellen, wie diese Ecke des Ladens vor dreißig Jahren ausgesehen hatte. Plötzlich fühlte sie sich direkt in den Moment, den sie damals hier erlebt hatte, zurückversetzt. Das ging so weit, dass sie fast meinte wieder die leichte Brise von damals auf ihrem Nacken zu spüren, ebenso wie die ihre von den Süßigkeiten klebrigen Finger und den Schweiß, der sich in ihren Kniekehlen gebildet hatte…Sie konnte sich auch an das Lachen, das damals an ihrem Tisch geherrscht hatte – an das Lachen ihrer Eltern sowie deren fröhliche Gesichter – erinnern. Wenn sie sich nicht komplett irrte waren die beiden doch glücklich gewesen. Aber eigentlich war sie sich sicher, dass die gelöste Stimmung zwischen ihren Eltern damals echt war. Aber warum hatten sie sich dann nur getrennt?

„Geht es Ihnen gut?“ hörte sie den Mann sagen.

Diese Frage holte sie mit einem Schlag zurück ins Hier und Jetzt. „Ja. Es tut mir leid, aber ich war ganz in meine Erinnerungen versunken. Der Geschmack des Scones hat mich mal eben dreißig Jahre zurückversetzt.“

„Dann brauchen Sie jetzt aber dringend einen ,Elf-Uhr-Snack�“, lachte der Mann. „Kann ich Sie dazu verführen?“

Das Kribbeln, das Lacey durch den ganzen Körper fuhr, machte ihr bewusst, dass sie zu allem, was er ihr in seinem lieblichen Akzent und mit seinem freundlichen, verführerischen Blick vorschlagen würde „Ja und Amen“ sagen würde. Und so stimmte sie auch diesem Vorschlag von ihm zu und sei es auch nur weil ihre Kehle plötzlich zu trocken dazu schien ein einziges Wort des Widerspruchs herauszubekommen.

Er klatsche in die Hände. „Hervorragend! Ich werde Ihnen alles zeigen, was ich zu bieten habe. Ihnen sozusagen England kulinarisch zu Füßen legen.“ Er war gerade dabei, sich umzudrehen und in seinen Laden zu gehen, doch dann hielt er kurz inne und sah zu ihr zurück. „Ich heiße übrigens Tom.“

„Lacey“, antwortete sie und fühlte sich dabei ein wenig schwindelig, fast wie ein verknallter Teenager.

Während Tom in die Küche verschwand machte es sich Lacey auf dem Sitz am Fenster bequem. Sie versuchte, sich an weitere Erlebnisse aus ihrem damaligen Aufenthalt hier zu erinnern, doch leider vergebens. Die einzigen Dinge, an die sie sich erinnerte, waren der Geschmack von Scones und das Lachen ihrer Familie.

Einen Augenblick später kam der schöne Tom mit einem Kuchentablett, auf dem sich von der Rinde befreite Sandwiches, Scones und einige bunte Törtchen stapelten, aus der Küche zurück. Außerdem hatte er noch eine Teekanne dabei, die er neben das Kuchentablett auf den Tisch stellte.

„Das kann ich doch nicht alles essen!“, rief Lacey aus.

„Das ist für uns beide“, antwortete Tom. „Und es geht natürlich aufs Haus. Denn es wäre nicht höflich, die Dame beim ersten Date bezahlen zu lassen.“

Er setzte sich direkt neben sie.

Seine Ehrlichkeit überraschte Lacey. Ihr Puls begann erneut zu rasen. Es war schon so lange her, dass sie mit einem Mann geflirtet hatte. Sie hatte schon wieder Schmetterlinge im Bauch wie ein Teenager. Und fühlte sich genauso linkisch. Aber vielleicht lag das alles einfach nur daran, dass Tom Brite war. Vielleicht benahmen sich ja alle Engländer so.

„Beim ersten Date?“ hakte sie nach.

Doch noch bevor Tom antworten konnte bimmelte die Glocke über der Ladentür und eine Gruppe von ungefähr zehn Japanern fiel in den Laden ein. Tom sprang auf.

„Oh, Kundschaft.“ Er sah zu Lacey hinunter. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir unser Date verschieben?“

Ebenso selbstsicher wie sie ihn bisher erlebt hatte machte sich Tom auf den Weg zur Ladentheke und lieГџ Lacey ziemlich sprachlos zurГјck.

Da der Laden nun voller Touristen war, ging es in ihm inzwischen laut und umtriebig zu.В  Lacey verschlang ihren Elf-Uhr-Snack, hatte dabei aber immer ein Auge auf Tom. Doch der war von seinen Kunden ganz und gar mit Beschlag belegt.

Als sie fertig gegessen hatte wollte sie ihm zum Abschied noch kurz zuwinken, aber er war inzwischen wieder in seiner KГјche und konnte sie deshalb nicht sehen.

Ein bisschen niedergeschlagen und extrem satt verlieГџ Lacey die Konditorei und trat wieder auf die StraГџe hinaus.

Dort blieb sie abrupt stehen. Denn sie hatte direkt gegenüber der Konditorei einen leerstehenden Laden entdeckt. Und dieser leerstehende Laden löste so tiefe Gefühle in ihr aus, dass ihr fast der Atem wegblieb. Da war irgendetwas mit diesem Laden, etwas, das an zutiefst in ihrem Inneren verschütteten Erinnerungen aus ihrer Kindheit rührte. Etwas, das sie dazu zwang, sich den Laden näher anzusehen.




KAPITEL VIER


Durch das Fenster des leerstehenden Ladens lugte Lacey in diesen hinein und versuchte auf diese Weise die Erinnerungen, die gerade in ihr aufgekommen waren, zu fassen zu bekommen. Aber da kam nichts mehr. Doch das, was sich da in ihr geregt hatte, war mehr als eine normale Kindheitserinnerung, sondern fГјhlte sich eher an als sei sie frisch verliebt.

Bei ihrem Blick durch das Fenster des Ladens stellte Lacey fest, dass dieser leer war und kein Licht darin brannte. Der Fußboden des Ladens war aus hellen Holzbrettern gefertigt. Die vielen Alkoven in seinem Inneren waren zum größten Teil mit eingebauten Regalen ausgestattet und an einer der Wände stand ein großer, hölzerner Schreibtisch. Der von der Decke hängende Leuchter war aus Kupfer und offensichtlich antik. Teuer, dachte Lacey. Den haben die beim Auszug bestimmt nicht absichtlich zurückgelassen.

Dann bemerkte Lacey, dass die TГјr des Ladens nicht abgeschlossen war. So blieb ihr praktisch gar nichts anderes Гјbrig, als hineinzugehen.

Im Laden roch es irgendwie metallisch und dazu nach Staub und Schimmel – eine Kombination, die bei Lacey sofort einen neuen Erinnerungsschub auslöste. Denn genauso hatte es auch im Geschäft ihres Vaters, einem alten Antiquitätenladen, gerochen.

Sie hatte diesen Laden geliebt. Als Kind hatte es nichts schöneres für sie gegeben als sich inmitten der ganzen alten Schätze aufzuhalten, mit den gruseligen alten Porzellanpuppen, die es dort gab, zu spielen und in Sammlerstücken von Kinder-Comics wie  „Bunty“ oder „The Beano“ oder den ungeheuer seltenen und wertvollen Originalausgaben von „Rupert the Bear“ zu schmökern.

Doch am liebsten hatte sie in dem ganzen alten Kram herumgestöbert und versucht, sich ein Bild von den früheren Besitzern so manchen Stücks zu machen. Krimskrams aller Art gab es dort wirklich genug und jedem einzelnen Teil davon haftete derselbe metallisch-staubige-schimmelige Geruch an, der ihr auch hier entgegenwehte.

Und ebenso wie der Anblick des auf einer Klippe am Meer gelegenen Craig Cottage den alten Traum aus ihrer Kindheit, später einmal am Meer zu leben, neu entfacht hatte, erweckte dieser Laden ihren alten Traum, einmal einen eigenen Laden zu haben, zu neuem Leben.

Sogar der Grundriss des Ladens ähnelte dem ihres Vaters. Je mehr sie sich umblickte, desto mehr Erinnerungen aus den tiefsten Schichten ihres Gedächtnisses drängten nach oben und überdeckten ihre aktuellen Wahrnehmungen – so als würde man eine Lage Pauspapier über eine Zeichnung legen. Vor ihrem inneren Auge waren die eigentlich leeren Regale des Ladens plötzlich angefüllt mit schönen Dingen, vorwiegend mit Küchenutensilien aus der Zeit der Königin Viktoria, auf die ihr Vater spezialisiert gewesen war. Und dort drüben, auf der Ladentheke, sah sie die große kupferne Registrierkasse – die sperrige mit den schwergängigen Tasten, an der ihr Vater festgehalten hatte, weil sie angeblich „den Geist wachhalte“ und „die Fähigkeiten im Kopfrechnen fördere“ – stehen. Während sie meinte, die Worte ihres Vaters zu hören und immer mehr Bilder aus der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge auftauchten schlich sich ein verträumtes Lächeln auf ihre Lippen.

Sie war so sehr in ihren Tagtraum versunken, dass sie nicht hörte, dass sich von der Hinterseite des Ladens Schritte näherten. Sie bemerkte nicht einmal, dass der Mann, dem diese Schritte zuzurechnen waren und der nicht gerade freundlich dreinsah, durch die Hintertür trat und direkt auf sie zukam. Erst als jemand sie auf die Schulter tippte merkte sie, dass sie nicht mehr allein war.

So war es kein Wunder, dass dieses Antippen ihr einen solchen Schreck versetzte, dass ihr Herz einen Moment lang auszusetzen schien und sie beinahe laut aufgeschrien hätte. Als sie sich herumdrehte und das Gesicht des Fremden sehen konnte, sah sie einen älteren Herrn mit schütterem, weißem Haar und dicken Tränensäcken unter seinen strahlend blauen Augen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte der Mann in einem schroffen, unfreundlichen Ton.

Lacey war so erschrocken, dass eine ihrer Hände unwillkürlich direkt zu ihrem Herzen hinaufflog. Es dauerte einen Augenblick bis ihr bewusst wurde, dass es nicht etwa der Geist ihres Vaters gewesen war, der ihr gerade auf die Schulter geklopft hatte und auch, dass sie kein Kind mehr war, das sich im Laden ihres Vaters befand, sondern eine erwachsene Frau, die gerade Urlaub in England machte. Eine erwachsene Frau, die sich unbefugten Zutritt zu diesem Laden hier verschafft hatte.

„Oh, es tut mir leid!“ sprudelte sie hervor. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass jemand hier ist. Und die Tür war nicht abgeschlossen.“

Der Mann starrte sie misstrauisch an. „Haben Sie denn nicht gesehen, dass der Laden leer steht? Hier gibt es nichts zu kaufen.“

„Das weiß ich“, sprudelte Lacey in dem Versuch sich zu rechtfertigen und das Misstrauen des  alten Mann zu beschwichtigen, heraus. „Aber ich musste einfach hier hereinkommen. Denn alles hier erinnert mich sehr an den Laden meines Vaters.“ Zu ihrer eigenen Überraschung füllten sich Laceys Augen plötzlich mit Tränen. „Ich habe ihn seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen.“

Das Verhalten des Mannes änderte sich von einer Sekunde zur nächsten. Plötzlich stand er ihr nicht mehr argwöhnisch und ablehnend, sondern eher freundlich gegenüber.

„Ach du meine Güte“, sagte er freundlich und schüttelte mitleidig den Kopf als er sah wie Lacey sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischte. „Ist schon in Ordnung, meine Liebe. Ihr Vater hatte also einen Laden wie diesen hier?“

Lacey war es peinlich, dass sie diesen Mann mit ihren Problemen belastet hatte. DarГјber hinaus fГјhlte sich ziemlich schuldig, denn schlieГџlich hatte er nicht nur darauf verzichtet, die Polizei zu rufen und sie von dieser aus seinem Laden entfernen zu lassen. Im Gegenteil: er hatte sich eher wie ein erfahrener Therapeut verhalten, und ihr freundliches Interesse entgegengebracht, und sie nicht verurteilt, sondern vielmehr versucht, sie ein wenig aufzubauen. Doch irgendwie konnte Lacey nicht anders als ihm ihr Herz auszuschГјtten.

„Er hatte einen Antiquitätenladen“, erklärte sie und obwohl immer Tränen ihre Wangen hinunterliefen huschte gleichzeitig auch ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. „Zuerst hat mich nur der Geruch des Ladens hier an die alten Zeiten erinnert, aber dann sind auf einmal noch viel mehr Erinnerungen auf mich eingestürmt. Sein Laden war genauso aufgeteilt wie dieser.“ Sie zeigte zu der Tür des hinteren Zimmers, durch die der Mann in den Laden gekommen sein musste. „Er nutzte sein Hinterzimmer als Lager, wollte aber eigentlich immer einen Auktionsraum daraus machen. Das Zimmer war sehr lang und ging auf einen Garten hinaus.“

Der Mann begann zu kichern. „Dann kommen Sie doch mal mit und schauen sich mein Hinterzimmer an. Es ist lang und geht auf einen Garten hinaus.“

Noch ziemlich angefasst von dem Vergleich, den er gezogen hatte, folgte Lacey dem Mann in das Hinterzimmer. Lang und schmal, wie es war, erinnerte es an ein Zugabteil und sah fast genauso aus wie das Hinterzimmer im Laden von Laceys Vater. Ohne sich weiter umzusehen durchquerte Lacey den Raum und ging direkt in den dahinter liegenden, wunderschönen Garten hinaus. Auch dieser war lang und schmal, erstreckte er sich doch bestimmt 15 Meter nach hinten. Der Garten war voller bunter Blumen und ein paar strategisch angepflanzte Bäume und Büsche spendeten gerade so viel Schatten, wie man brauchte. Nur ein kniehoher Zaun trennte diesen Garten von dem des daneben liegenden Ladens, der im Gegensatz zu dem grünenden und blühenden Paradies, in dem sie gerade stand, nur als Lagerfläche für das Geschäft genutzt zu werden schien; denn anstatt von Pflanzen gab es dort nur ein paar große, hässliche, graue Plastikschuppen und eine Reihe Abfalltonnen, die den Garten endgültig verschandelten.

Da wendete sich Lacey doch lieber wieder dem schönen Garten zu.

„Dieser Garten ist einfach unglaublich“, sprudelte sie hervor.

„Ja, er ist wirklich schön“, antwortete der Mann und hob dabei einen umgefallenen Blumentopf auf. „Die letzten Mieter des Ladens haben hier Einrichtungsgegenstände für Haus und Garten verkauft.“

Bei diesen Worten des Mannes fiel Lacey sofort die Traurigkeit auf, mit der er sie ausgesprochen hatte. Dann bemerkte sie, dass die Türen des großen gläsernen Gewächshauses, vor dem sie sich gerade befand, offenstanden und einige der Topfpflanzen darin anscheinend umgeworfen worden waren, Denn sie lagen mit zum Teil geknickten Stängeln und aus ihren Töpfen gefallener Erde auf dem Boden herum. Dieser Anblick erregte Laceys Neugier, denn es war schon seltsam in einem so gut gepflegten Garten wie diesem hier plötzlich vor einer Reihe umgeworfener Pflanzen zu stehen. So dachte Lacey inzwischen nicht mehr über ihren Vater nach, sondern über das, was wohl hier geschehen sein mochte.

„Was ist denn hier passiert?“ fragte sie.

Der ältere Mann wirkte niedergeschlagen. „Deshalb bin ich überhaupt hier. Ich habe nämlich heute Morgen einen Anruf bekommen, in dem man mir gesagt hat, dass hier alles leergeräumt worden wäre.“

Lacey schnappte nach Luft. „Sie sind ausgeraubt worden?“ Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, dass es hier, in dem schönen und ruhigen Badeort Wilfordshire, so etwas wie Verbrechen geben solle.

Das schlimmste Vergehen, das sie sich hier, in einem so netten Ort wie diesem, vorstellen konnte war, dass irgendein Lausbub einen zum AbkГјhlen auf eine Fensterbank gestellten Kuchen von diesem weg stibitzte.

Der Mann schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, nein. Die sind weggezogen. Sie haben ihr ganzes Zeug zusammengepackt und sind einfach gegangen. Haben mir nicht einmal Bescheid gesagt. Und haben mir auch noch ihre ganzen Schulden hinterlassen. Unbezahlte Gas-, Wasser- und Stromrechnungen und dazu noch einen Berg anderer Rechnungen.“ Er schüttelte traurig den Kopf.

Lacey war entsetzt zu hören, dass der Laden erst heute Morgen ausgeräumt und verlassen worden war und sie auf diese Weise unabsichtlich in ein sich gerade entwickelndes Drama  hineingestolpert war.

„Das tut mir sehr leid“, sagte sie mit echtem Mitleid für den Mann. Jetzt war es an der Zeit, dass sie in die Rolle der Therapeutin schlüpfte und versuchte, den Mann ebenso zu trösten wie er es vorhin mit ihr gemacht hatte. „Wird es denn gehen?“

„Ich glaube nicht“, sagte er traurig. „Um die Schulden dieser Leute los zu werden, werden wir den Laden wohl verkaufen müssen. Und ehrlich gesagt, denke ich, dass wir, also meine Frau und ich, viel zu alt dafür sind, mit so einem Stress fertig zu werden.“ Dabei schlug er sich leicht gegen die Brust, als wolle er damit sagen, dass er ein schwaches Herz habe. „Es geht mir sehr nahe, den Laden verkaufen zu müssen“, meinte er mit brechender Stimme. „Denn er war jahrelang im Besitz meiner Familie. Ich liebe ihn. Wir hatten über die Jahre einige sehr interessante Mieter hier drin.“ Die Erinnerung an diese scheinbar erlebnisreiche Zeit brachte ihn einerseits zum Träumen und gleichzeitig zu einem melancholischen Lachen. „Aber leider geht es jetzt nicht mehr weiter. Wir sind dem ganzen Stress und den Belastungen, die uns der Laden mittlerweile machen würde, einfach nicht mehr gewachsen.“

Die Trauer, die man seiner Stimme anhören konnte, brach Lacey das Herz. In was für eine missliche Lage hatte man diesen Mann nur gebracht? Und wie schlecht musste es ihm und seiner Frau gehen? Das Mitleid, das sie für den alten Mann empfand war ähnlich stark wie der Jammer über ihre eigene Lage. Denn schließlich war sie damit konfrontiert, dass sie das ganze Leben, das sie sich zusammen mit David in New York aufgebaut hatte, verloren hatte und das ganz ohne jeden Grund. Sie wünschte sich sehr, dass sie das Problem des alten Mannes in ihre Hand nehmen und aus der Welt schaffen könnte.

Und so platzte noch bevor sie eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, was sie da eigentlich sagte, aus ihr heraus: „Ich miete den Laden“.

Vor Überraschung schossen die weißen Augenbrauen des Mannes nach oben. „Ich glaube ich habe nicht richtig gehört, was Sie gerade gesagt haben.“

„Ich miete den Laden“, wiederholte Lacey schnell, um zu verhindern, dass ihr logisches Denken zurückkam und ihr einen Strich durch diese blitzartig getroffene Entscheidung machen konnte.

„Sie können den Laden nicht verkaufen. Dafür hat er – wie Sie selbst sagen – eine viel zu lange Geschichte in ihrer Familie. Da hängen doch jede Menge Erinnerungen dran. Und ich bin super vertrauenswürdig. Ich habe Erfahrung. Naja, wenigstens sozusagen.“

In diesem Moment dachte sie wieder an die Kontrolleurin mit den dunklen Augenbrauen vom Flughafen zurück, die ihr gesagt hatte, dass sie, falls sie in England arbeiten wolle, ein Visum bräuchte und wie sie ihr im Brustton tiefster Überzeugung geantwortet hatte, dass arbeiten das letzte wäre, was sie hier tun wolle.

Und wie sollte es dann mit Naomi weitergehen? Und wie mit ihrem Job bei Saskia? Wie sollte es Гјberhaupt mit ihrem ganzen bisherigen Leben weitergehen?

Doch auf einmal spielte das alles keine Rolle mehr. Denn das GefГјhl, das Lacey schon beim ersten Anblick dieses Ladens Гјberkommen hatte, war so etwas Liebe auf den ersten Blick gewesen. Uns so war sie gerade dabei ins kalte Wasser zu springen.

„Und? Was sagen sie dazu?“ fragte sie den Mann.

Der alte Mann wirkte ziemlich Гјberrascht, was ihm Lacey aber nicht verdenken konnte. Da stand nun eine seltsame Amerikanerin, die Klamotten trug, die schwer nach Ramschladen aussahen und versuchte ihn zu Гјberreden, dass er ihr seinen Laden vermieten solle. Und das, wo er sich doch schon dazu entschlossen hatte, diesen zu verkaufen.

„Also…ich…“, setzte er zur Antwort an. „Es wäre schon schön, den Laden noch ein wenig länger im Familienbesitz zu halten. Außerdem sind die Preise für den Verkauf von Immobilien zurzeit nicht gerade gut. Aber ich muss zuerst mit meiner Frau Martha über das alles reden.“

„Das ist doch klar“, sagte Lacey. Überrascht darüber, wie sicher sie sich ihrer Sache war kritzelte sie schnell ihren Namen und ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier und reichte es dem Mann. „Nehmen Sie sich so viel Zeit wie Sie brauchen.“

Denn sie selbst brauchte ja auch noch etwas Zeit, zum Beispiel um sich ein Visum zu besorgen, einen Businessplan auszuarbeiten, das nötige Geld zum Eröffnen eines eigenen Ladens aufzutreiben und überhaupt für alles.

Vielleicht sollte sie sich zu aller erst einmal das Buch „Einen Laden führen für Dummies“ besorgen.

“Lacey Doyle”, las der Mann von dem Zettel ab, den sie ihm gegeben hatte.

Lacey nickte. Noch vor zwei Tagen war ihr dieser Name noch komplett fremd vorgekommen und jetzt war er wieder ganz der ihre.

„Ich heiße Stephen“, antwortete er.

Sie gaben sich die Hand.

„Ich freue mich auf Ihren Anruf“, sagte Lacey.

Voller Vorfreude verließ sie den Laden. Wenn Stephen ihr diesen vermietete, dann würde sie sehr viel länger in Wilfordshire bleiben, als sie vorgehabt hatte. Eigentlich hätte ihr diese Vorstellung Angst machen müssen, doch stattdessen löste er reine Freude in ihr aus. Denn hier zu bleiben fühlte sich einfach richtig an – nein, mehr als nur richtig: hier zu bleiben fühlte sich an als wäre es ihr Schicksal.




KAPITEL FГњNF


„Ich dachte du wärst auf Urlaub dort!“ schrie ihr Naomi aufgebracht durch ihr zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter festgeklemmtes Handy entgegen.

Seufzend versuchte sie die Tirade ihrer Schwester auszublenden und sich weiterhin auf die Tastatur des fГјr die Nutzer der BГјcherei von Wilfordshire bereitstehenden Computers, an dem sie saГџ, zu konzentrieren. Sie war gerade dabei, den Status ihres Online-Antrages zur Umwandlung ihres Urlaubervisums in ein Visum fГјr FirmengrГјnder zu ГјberprГјfen.

Nachdem sie Stephen kennengelernt hatte, hatte sie begonnen sich darüber zu informieren, was man mitbringen musste, wenn man in England ein Geschäft aufmachen wollte. Ihre diesbezüglichen Nachforschungen hatten ergeben, dass ihr als jemandem, der der englischen Sprache sehr gut mächtig war und etwas Geld auf der hohen Kante hatte, nur noch eines fehlte, um hier ein Geschäft aufmachen zu dürfen und dies war ein vernünftiger Businessplan. Doch einen solchen zu erstellen würde Lacey dank Saskia, die immer alle möglichen Arbeiten – auch solche, für die sie bei weitem nicht gut genug bezahlt wurde – auf sie abgewälzt hatte, auch keinerlei Probleme bereiten. Denn dadurch, dass sie im Zuge ihrer Arbeit für Saskia schon so einige Businesspläne erstellt hatte, war diese Aufgabe nichts Neues mehr für Lacey. Und so hatte es Lacey nur wenige Abende und noch weniger Mühe gekostet, einen Businessplan auszuarbeiten und einzureichen, wobei die Mühelosigkeit dieses Unterfangens, wie es Lacey schien, ihr nur ein weiteres Mal beweisen sollte, für wie richtig das Universum es erachtete, dass sie hierblieb und ihr Leben neu ordnete.

Als sie dann in der offiziellen Webseite der britischen Regierung eingeloggt war sah sie, dass ihr Antrag auf Erstattung eines Visums für Firmengründer immer noch unter „in Bearbeitung“ lief. Da sie so sehr darauf brannte, endlich loslegen zu können, zog sie dieses weitere Hängenbleiben in der Warteschlange der Behörden ein wenig herunter. Also konzentrierte sie sich lieber wieder auf Naomi und das, was diese ihr am Telefon zu sagen hatte.

„ICH KANN EINFACH NICHT VERSTEHEN, dass du dort hinziehen willst!“ schrie ihre Schwester gerade. „Und auch noch für immer!“

„Es ist doch gar nicht für immer“, versuchte Lacey sie zu beruhigen. Schließlich hatte sie im Laufe der Jahre genug Erfahrung darin sammeln können, Naomi im Falle der Fälle nur ja nicht noch weiter aufzuregen als sie sowieso schon war. “Das Visum ist auf zwei Jahre begrenzt.“

Oh, das hätte sie wohl besser nicht gesagt.

„ZWEI JAHRE?“ brüllte Naomi, die anscheinend am Zenit ihrer Wut angekommen war.

Lacey rollte mit den Augen. Sie hatte schon von vorne herein geahnt, dass ihre Familie nicht hinter ihrer Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen, stehen würde. So hatte sie Naomi, so lange sie in New York gelebt hatte, immer wieder als Babysitterin eingesetzt und für ihre Mutter hatte sie des Öftern als eine Art moralische Unterstützung und/oder Seelentrösterin zur Verfügung stehen müssen. So war ihre von Freude übersprudelnde letzte Nachricht an die Doyle Girlz bei diesen eingeschlagen wie eine Atombombe; und zwar so sehr, dass Lacey auch jetzt – einige Tage später – immer noch mit dem daraus resultierenden Niederschlag zu kämpfen hatte.

„Ja, Naomi“, antwortete sie niedergeschlagen. „Zwei Jahre. Ich denke, die habe ich mir verdient. Ich habe David vierzehn Jahre meines Lebens geopfert und meinem Job fünfzehn Jahre. Ich habe neununddreißig Jahre meines Lebens in New York City verbracht. Mensch Naomi – und das, wo ich bald vierzig werde! Wünschst du dir wirklich für mich, dass ich mein ganzes Leben lang an einem einzigen Ort leben soll? Soll ich, wenn es nach dir geht, mein ganzes Leben lang nur einen Job haben? Und nur einen Mann?“

Kaum hatte sie ihre letzten Worte ausgesprochen, erschien Toms markantes Gesicht vor ihrem inneren Auge und sofort wurden ihre Backen wieder warm.

Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihr eventuelles neues Leben zu planen, dass sie bisher noch nicht dazu gekommen war, der Konditorei einen zweiten Besuch abzustatten – und statt eines ausgiebigen, gemütlichen Brunchs in ihrem Garten bestand ihr Frühstück zurzeit aus einer meist unterwegs gegessenen Banane und einem aus einer Instant-Mischung aus dem Lebensmittelladen „gebrühten“ Frappuccino. Und es hatte bis gerade eben gedauert bis es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen war, dass sie – wenn sie endlich einmal alle Formalitäten hinsichtlich des Ladens von Stephen und Martha erledigt hätte – in Toms direkter Nachbarschaft arbeiten würde. Dann würde sie nur zum Fenster ihres Ladens hinausschauen müssen, um ihn jeden Tag zu sehen. Bei diesem Gedanken wurde ihr schon wieder ganz schwummerig zu Mute.

„Und was ist mit Frankie?“ jammerte Naomi am anderen Ende der Leitung und holte sie damit zurück in die Realität.

„Ich habe ihm ein paar Toffees geschickt.“

„Er braucht seine Tante!“

„Ich bin immer noch für ihn da! Ich bin ja nicht tot, sondern will nur einmal eine Zeit lang wo anders leben.“

Doch ihre kleine Schwester legte einfach auf.

Oh Mann, wie kann sich jemand, der 36 Jahre alt ist, bloß benehmen als wäre er gerade mal 16, dachte sich Lacey mit einer gewissen Ironie.

In dem Moment als sie das Handy zurück in ihre Tasche steckte bemerkte Lacey ein Flickern auf der geöffneten Bildschirmseite vor ihr. Der Status ihres Antrags auf ein Visum war von „in Bearbeitung“ in „genehmigt“ geändert worden!

Lacey sprang von ihrem Stuhl auf, gab einen Freudenschrei von sich und boxte vor lauter Гњbermut in die Luft und erschreckte damit die meist Г¤lteren Menschen, die an den anderen Computern der Bibliothek saГџen so sehr, dass diese ihre Solitaire-Spiele fГјr einen Augenblick unterbrachen und zu ihr herГјbersahen.

„Tut mir leid!“ rief Lacey, wobei sie versuchte ihre freudige Erregung etwas in den Griff zu bekommen.

Vor lauter Ehrfurcht ganz atemlos geworden ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Sie hatte es geschafft! Jetzt hatte sie grünes Licht, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Und die Tatsache, dass das alles bisher recht leicht zu bewerkstelligen gewesen war, ließ sie wieder glauben, dass das Schicksal seine schützenden Hände über ihr Vorhaben hielt….

Doch da war noch ein letztes Hindernis. Sie musste noch mit Stephen und Martha Гјber die Vermietung des Ladens sprechen,


*

Obwohl Lacey bei ihrem Stadtbummel recht entspannt erscheinen mochte war sie alles andere als das. Denn sie wollte sich nicht allzu weit von dem Laden wegbegeben, wollte sie doch nach Stephens Anruf mit ihrem Scheckheft und einem Stift bewaffnet schnellstmöglich zu diesem zurücklaufen und den Mietvertrag unterschreiben, und zwar noch bevor die warnende Stimme in ihrem Inneren ihr davon abraten konnte. In der Zwischenzeit konnte und wollte sie sich erst einmal nach ein paar neuen Outfits umschauen. Als sie dann noch mit einem ihrer billigen Bootsschuhe vom Flughafen an dem hiesigen Kopfsteinpflaster hängenblieb, stolperte und sich den Knöchel verstauchte wurde ihr endgültig klar, dass sie die ganzen Billig-Klamotten, die sie am Flughafen gekauft hatte, loswerden und durch vernünftigere Kleidung ersetzen musste, wenn sie als zukünftige Geschäftsfrau wahr und ernst genommen werden wollte.

Aus diesem Grund machte sie sich auf den Weg zu der Modeboutique, die neben ihrem – hoffentlich – baldigem eigenen Laden lag.

So kann ich mich auch gleich mit meinen neuen Nachbarn bekannt machen, dachte sie sich.

Sie betrat den sehr sparsam eingerichteten Laden, in dem es auch nur wenige ausgewählte Stücke zu kaufen zu geben schien. Die Frau hinter der Ladentheke sah auf, um die Besucherin zu betrachten, rümpfte aber beim Anblick von Laceys Klamotten deutlich sichtbar die Nase. Die Frau war spindeldünn und wirkte ziemlich hart, hatte aber ihr lockiges braunes Haar ganz genauso frisiert wie Lacey das ihre. Lacey dachte amüsiert, dass die andere, die ein schwarzes Kleid trug, aussah wie ein böser Klon von ihr.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte die Frau mit einer dünnen, unangenehmen Stimme.

„Nein, danke“, antwortete Lacey. „Ich weiß was ich suche.“

Zuerst nahm sie sich einen Zweiteiler, der im selben Stil gehalten war wie die Sachen, die sie Гјblicherweise in New York getragen hatte, von einer der Kleiderstangen, hielt dann aber inne. Wollte sie wirklich wieder so aussehen wie frГјher? Und dieselbe Art Kleidung tragen? Oder wollte sie sich nicht lieber neu erfinden?

Sie wandte sich der Verkäuferin zu und sagte: “Ich glaube ich brauche doch etwas Hilfe.“

Daraufhin kam die Frau zwar hinter der Ladentheke hervor und ging zu Lacey hinüber, wirkte dabei aber weiterhin ziemlich unbeteiligt. Man merkte ihr deutlich an, dass sie es für Zeitverschwendung hielt, sich mit Lacey abzugeben – denn welche Frau, die – wie es aussah – normalerweise in Second-Hand und Ramschläden einkaufte, hatte schon genug Geld, um in einer Boutique wie dieser einkaufen zu können? Deshalb freute sich Lacey schon auf den Moment, in dem sie dieser hochnäsigen Trulla ihre Kreditkarte unter die Nase halten könnte.

„Ich brauche etwas für die Arbeit“, sagte Lacey. „Schon formell, aber trotzdem nicht zu steif, wenn Sie wissen, was ich meine?“

Die Frau blinzelte. „Und was machen Sie beruflich?“

„Ich mache in Antiquitäten.“

„In Antiquitäten?“

Lacey nickte. „Yup, in Antiquitäten.“

Die Frau holte ein Teil von dem Kleiderständer. Es war ein modischer, ein wenig ausgefallener und leicht androgyner Hosenanzug. Lacey nahm den Anzug mit in die Umkleidekabine und probierte, ob er ihr von der Größe her passte. Als sie sich in diesem Outfit im Spiegel sah musste sie unweigerlich grinsen. Sie fand, dass sie darin irgendwie cool aussah. Auch wenn die Verkäuferin wie eine Spitzmaus aussah, so hatte sie doch einen untrüglich guten Geschmack und wusste genau, wie man die Vorzüge einer Figur am besten hervorhob.

Lacey trat aus der Umkleidekabine heraus. „Er ist einfach perfekt. Ich nehme ihn. Und außerdem noch vier weitere, nur jeden davon in einer anderen Farbe.“

Die Augenbrauen der Verkäuferin schossen nach oben. „Wie bitte?“

In diesem Moment begann Laceys Handy zu klingeln. Als sie auf das Display schaute, sah sie dort Stephens Nummer stehen.

Ihr Herz tat einen Sprung. Das war er jetzt also! Der Anruf, auf den sie gewartet hatte!В  Der Anruf, der Гјber ihre Zukunft entschied!

„Ich nehme ihn“, wiederholte Lacey, die vor lauter freudiger Aufregung fast keine Luft mehr bekam, in Richtung der Verkäuferin. „Und dazu noch vier weitere in verschiedenen Farben, die Sie aussuchen dürfen.“

Die ziemlich verwirrt wirkende Verkäuferin ging zur Hintertür des Ladens hinaus, um – wie Lacey annahm – in den hässlichen grauen Containern nach weiteren Exemplaren ihres neuen Outfits zu suchen.

Inzwischen nahm Lacey ihren Anruf entgegen. „Stephen?“

„Hallo Lacey. Martha und ich sind im Laden. Wenn Sie möchten können Sie gerne vorbeikommen und dann reden wir.“

Das hörte sich so vielversprechend an, dass Lacey einfach lächeln musste.

„Ja, gerne. In fünf Minuten bin ich bei Ihnen.“

Die Verkäuferin kam mit den Armen voller Anzüge für Lacey zurück. Der Blick, den diese auf die Stücke ergatterte, bestätigte ihr, dass die Farbauswahl, die die Frau getroffen hatte – hautfarben, schwarz, marineblau und altrosa- ihr zusagte.

„Möchten Sie die auch noch anprobieren?“, fragte die Verkäuferin.

Lacey schüttelte den Kopf. Denn sie hatte es jetzt eilig, ihre Einkäufe hinter sich zu bringen und so schnell wie möglich ein Haus weiter zu gehen, weswegen sie ungeduldig zur Tür der Boutique hinüberschaute.

„Nicht wenn die Sachen dieselbe Größe haben wie das Exemplar, das ich noch anhabe. Ich vertraue darauf, dass alles okay ist. Setzen Sie sie einfach auf meine Rechnung“, leierte sie schnell und mit ungeduldiger Stimme herunter. „Und das hier möchte ich bitte gleich anbehalten.“

Doch die Verkäuferin ließ sich nicht hetzen. Wie Lacey zum Fleiß gab sie die ganzen Teile einzeln in die Kasse ein und schlug sie danach ebenso sorgfältig wie langsam in Seidenpapier ein.

„Warten Sie!“, rief Lacey als die Verkäuferin nach einer Papiertüte griff, in die sie ihre neuen Anzüge  stecken wollte. „Ich kann keine Einkaufstüte mit mir herumtragen. Ich brauche eine Handtasche. Aber eine gute.“ Dabei wanderte ihr Blick zu den Handtaschen, die auf einem hinter der Verkäuferin stehenden Regal aufgereiht waren. „Können Sie mir bitte eine davon aussuchen, die zu meinen neuen Sachen passt?“

Die Verkäuferin machte ein Gesicht als hätte sie es mit einer Verrückten zu tun. Dennoch drehte sie sich um, betrachtete die zum Verkauf stehenden Taschen, um sich dann zielsicher für eine überdimensionierte schwarze Clutch mit einer goldfarbenen Schließe zu entscheiden.

„Die ist perfekt“, meinte Lacey, wobei sie ungeduldig von einem Bein aufs andere trat, wie eine Sprinterin, die auf den Startschuss für einen Lauf wartete. „Setzen Sie sie auf die Rechnung.“

Die Frau tat wie geheißen und begann dann damit, Laceys neue Sachen sorgfältig in der Handtasche zu verstauen.

„So, das wird–“

„SCHUHE!“ unterbrach sie Lacey. Wie schusselig sie doch war. Schließlich waren es doch ihre grässlichen Bootsschuhe gewesen, die sie erst in diesen Laden geführt hatten. „Ich brauche Schuhe!“

Die Verkäuferin schien immer weniger begeistert von Lacey und ihren Wünschen zu werden. Vielleicht dachte sie, dass Lacey ihr einen Streich spielte und sie am Ende mit dem ganzen Kram sitzen lassen würde. „Die Schuhe stehen dort drüben“, sagte sie kühl und zeigte in die entsprechende Richtung.

Lacey begutachtete die kleine Auswahl wunderschöner Stöckelschuhe, die sie in ihrer Zeit in New York City, in der sie es ganz normal gefunden hatte wunde Füße zu haben, sicher gerne getragen hätte. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass inzwischen alles anders war. Sie musste keine unbequemen Schuhe mehr tragen.

Ihr Blick fiel auf ein Paar praktisch aussehende, schwarze Budapester. Da sie fand, dass diese Schuhe perfekt zu ihren neuen, androgyn angehauchten AnzГјgen passen wГјrden, steuerte sie direkt auf diese zu.

„Ich nehme die hier“, sagte sie und stellte die Budapester auf die Ladentheke und damit vor die Nase der Verkäuferin.

Die Frau fragte gar nicht erst, ob Lacey die Schuhe anprobieren wolle, sondern fГјgte sie ohne Weiteres zu der Liste der bereits von dieser erstandenen KleidungsstГјcke in ihrer Kasse hinzu. Der dort inzwischen aufgelaufene, vierstellige Rechnungsbetrag brachte sie zu einem HГјsteln, das sie diskret mit ihrer vor ihren Mund gehaltenen Faust abmilderte.

Lacey zückte ihre Kreditkarte, zahlte, zog ihre neuen Schuhe an, bedankte sich bei der Verkäuferin, verließ den Laden nach hinten hinaus und sprang von dessen Garten auf das daneben liegende, leerstehende Grundstück hinüber. Die Hoffnung, dass ihr Stephen in wenigen Augenblicken den Schlüssel für den Laden übergeben würde und sie auf diese Weise die Nachbarin der gelangweilten  Verkäuferin aus der Boutique, in der sie sich gerade eine komplette neue Identität zusammengekauft hatte, werden würde, gab ihr ungeheuren Auftrieb.

Als sie den Laden betrat schien Stephen sie nicht zu erkennen.

„Du hast doch gesagt, dass die Frau nicht besonders gut angezogen ist“, murmelte die Frau, die neben ihm stand und seine Frau Martha sein musste, ihm zu. Falls Martha gedacht hatte, dass niemand außer ihrem Mann ihre Worte mitbekommen hatte, lag sie falsch, denn Lacey hatte jedes ihrer Worte verstanden.

Lacey zeigte auf ihr Outfit und witzelte: „Ta-da. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich weiß, was ich tue.“

Martha warf Stephen einen Blick zu. „Warum hast du nur solche Bedenken gehabt, du alter Dussel? Die Frau ist die Antwort auf unsere Gebete! Gib ihr den Mietvertrag – und zwar gleich!“

Lacey konnte es kaum glauben. Was für ein Glück. Hier hatte ganz bestimmt das Schicksal seine Hände im Spiel!

Stephen zog hastig ein paar Dokumente aus seiner Tasche und legte sie vor Lacey auf die Ladentheke. Im Gegensatz zu ihren Scheidungspapieren, die eine unendliche Trauer in ihr ausgelöst hatten, erschienen ihr diese Papiere als ein einziges Versprechen für f ihre Zukunft. Sie griff zu ihrem Stift – demselben, mit dem sie auch ihre Scheidungspapiere unterschrieben hatte – und setzte ihre Unterschrift unter den Vertrag.

Lacey Doyle. Ladenbesitzerin.

Der Aufbruch in ihr neues Leben war besiegelt.




KAPITEL SECHS


Mit einem vor lauter GlГјck bis zum Hals hinauf schlagenden Herz schwang Lacey ihren Besen und fegteВ  den Boden des Ladens, dessen stolze Mieterin sie nun war.

Die Gefühle, die zurzeit auf sie einstürmten, waren ihr ganz neu. Denn zum ersten Mal war sie die Herrin über ihr eigenes Leben und ihre Zukunft lag allein in ihren Händen. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren und so war es kein Wunder, dass sie schon einige richtig tolle Pläne geschmiedet hatte. So wollte sie aus dem großen hinteren Zimmer in Erinnerung an ihren Vater, der dies damals in seinem Laden schon immer vorgehabt, aber nie in die Tat umgesetzt hatte, einen Auktionsraum machen. Als sie noch für Saskia gearbeitet hatte, war sie bei einer Unmenge von Auktionen gewesen – wenn auch zugegebenermaßen eher, um Sachen zu verkaufen als zu kaufen, doch sie war sich sicher, dass sie auch das Einkaufen schnell erlernen würde. Und obwohl sie noch nie zuvor einen eigenen Laden geführt hatte, hoffte sie auch das bald im Griff zu haben. Genau wie alles andere, was sie außerdem noch können musste.

In diesem Moment merkte sie, dass da jemand war, der zuerst am Laden vorbei gehen wollte, dann aber stehengeblieben war und sie nun durch das Fenster desselben ansah. In der Hoffnung, es handele  sich dabei um Tom, hielt sie mit dem Kehren inne und erkannte, dass die Person, die stocksteif vor ihrem Laden stand, eine Frau war. Aber keine fremde, sondern eine, die Lacey kannte. Sie war spindeldürr, trug ein schwarzes Kleid, und ihre langen, dunklen Locken ähnelten denen von Lacey. Mit einem Wort: da stand ihr böser Zwilling – die Verkäuferin aus der benachbarten Boutique.

Die Frau stГјrmte in den Laden, dessen TГјr noch immer nicht abgeschlossen war.

„Was machen Sie hier drin?“ fragte sie.

Lacey lehnte den Besen an die Ladentheke und streckte der Frau in einer freundlichen Geste ihre Hand entgegen.

„Mein Name ist Lacey Doyle. Ich bin Ihre neue Nachbarin.“

Die Frau starrte so angeekelt auf Laceys ausgestreckte Hand, als wäre diese mit Bazillen übersät. „Wie bitte?“

„Ich bin Ihre neue Nachbarin“, wiederholte Lacey im selben freundlich-selbstbewussten Ton wie eben. „Ich habe gerade den Mietvertrag für diesen Laden unterschrieben.“

Die Frau sah Lacey an, als hätte ihr diese ins Gesicht geschlagen. „Aber…“, murmelte sie.

„Gehört Ihnen die Boutique oder arbeiten Sie nur dort?“, fragte Lacey in dem Versuch die offensichtlich fassungslose Frau ein wenig herunterzubringen.

Die Frau nickte immer noch wie hypnotisiert. „Der Laden gehört mir. Ich heiße Taryn. Taryn Maguire.” Dann schüttelte sie ihren Kopf als wäre sie aus einer Trance erwacht und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Ich freue mich, dass ich eine neue Nachbarin habe. Ist der Laden nicht wunderbar? Ich denke, es ist ganz in Ihrem Sinn, dass er so dunkel ist, denn dann merkt man nicht gleich wie schmuddelig er eigentlich ist.“

Lacey konnte sich gerade noch davor zurГјckhalten, eine ungehaltene Mine aufzusetzen. Diese Selbstbeherrschung hatte sie ihrer jahrelangen Erfahrung im Umgang mit ihrer latent aggressiven Mutter zu verdanken.

Taryn lachte laut auf, als wolle sie ihr zweifelhaftes Kompliment von eben überspielen. „Dann verraten Sie mir doch bitte, wie Sie den Mietvertrag für diesen Laden bekommen haben. Soweit ich weiß, wollte Stephen ihn verkaufen.“

Lacey zuckte nur mit den Schultern. „Ja, das wollte er. Aber dann hat er seine Pläne wohl geändert.“

Taryns Gesicht sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Mit noch weiter erhobener Nase als bereits vorhin in ihrer Boutique und immer weniger in der Lage, ihre zunehmende Abscheu zu verbergen, ließ sie ihren Blick durch den Laden schweifen.

„Und Sie möchten hier also Antiquitäten verkaufen?“ fragte sie.

„Das stimmt. Als ich klein war, hatte mein Vater einen Antiquitätenladen und jetzt trete ich – sozusagen zu seinen Ehren – in seine Fußstapfen.“

„Antiquitäten“, wiederholte Taryn. Es war deutlich zu sehen, dass ihr der Gedanke, dass direkt neben ihrer schicken Boutique demnächst Antiquitäten verkauft werden sollten, ganz und gar nicht gefiel. Sie starrte Lacey auf eine Weise an, wie es ein Falke mit seiner Beute tun würde. „Und dürfen Sie das eigentlich? Ich meine, einfach von Amerika hier rüberkommen und einen Laden aufmachen?“

„Mit dem passenden Visum ist das kein Problem“, erklärte Lacey völlig cool.

„Das ist ja…interessant“, antwortete Taryn mit merklich wohl gesetzten Worten. „Ich weiß  nur, dass eine Firma, die einen Ausländer einstellen möchte, hierzulande erst einmal nachweisen muss, dass es niemanden aus Großbritannien gibt, der diesen Job genauso gut erledigen kann. Ich wundere mich nur, dass diese Bestimmung nicht auch für Leute gilt, die ein Geschäft gründen möchten…“ Die Verachtung in ihrer Stimme wurde immer deutlicher. „Dann sagen Sie also, dass Stephen seinen Laden einfach so an Sie, eine vollkommen Fremde, vermietet hat? Und das nachdem der Laden gerade mal zwei Tage leer stand?“ Ihre vorher zur Schau gestellte, doch nur erzwungene Höflichkeit schwand zusehends.

Lacey beschloss, sich nicht provozieren zu lassen.

„Das war wohl reines Glück. Stephen kam zufällig in den Laden als ich gerade ein wenig darin herumschnüffelte. Er war ziemlich fertig, weil seine vorherigen Mieter den Laden einfach verlassen und ihm einen Stapel unbezahlter Rechnungen hinterlassen hatten. Ich denke, der Rest geht darauf zurück, dass sich die Sterne eingeschaltet haben. Ich helfe ihm und er hilft mir. So etwas nennt man dann wohl Schicksal.“

Lacey sah, dass Taryns Gesicht inzwischen ganz rot angelaufen war.

„SCHICKSAL?“ schrie sie, wobei ihre bisher gut verborgene Aggressivität plötzlich ganz offensichtlich. „SCHICKSAL? Ich hatte Stephen schon vor Monaten gebeten, dass er den Laden, wenn er denn einmal frei werden sollte, an mich verkaufen solle. Denn ich wollte meinen Laden vergrößern. Und beide Läden zusammenzulegen wäre die einfachste Art gewesen das zu tun!“

Lacey zuckte mit den Schultern. „Ich habe den Laden ja nicht gekauft, sondern nur gemietet. Ich bin mir sicher, dass Stephen sich die Option, ihn an Sie zu verkaufen offenhält, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Nur eben noch nicht jetzt.“

„Das glaube ich einfach nicht!“, jammerte Taryn. „Sie wollen mir also weismachen, dass Sie mal eben hier hereinschneien und Stephen dazu bringen, Ihnen seinen Laden zu vermieten? Und das innerhalb weniger Tage? Haben Sie irgendetwas gegen ihn in der Hand? Oder haben Sie ihn mit irgendeinem Voodoo-Zauber verhext?“



Lacey gab nicht nach und sagte: „Wenn Sie wissen wollen, warum Stephen den Laden lieber an mich vermietet als an Sie verkauft hat, dann müssen Sie ihn schon selbst fragen.“ Doch sie glaubte, den Grund dafür zu kennen: vielleicht hat er es einfach deshalb getan, weil ich nett bin?

„Sie haben mir meinen Laden weggenommen“, meinte Taryn noch, bevor sie mit wehendem Haar aus dem Laden stürmte und die Tür hinter sich zuknallte.

Inzwischen war Lacey klar geworden, dass ihr neues Leben wahrscheinlich nicht ganz so idyllisch werden würde, wie sie gehofft hatte. Und dass ihr nicht ganz ernst gemeinter Gedanke, dass Taryn ihre böse Zwillingsschwester wäre, irgendwie zutraf. Aber es gab etwas, das sie dagegen unternehmen konnte.

Lacey schloss den Laden ab und marschierte mit festen Schritten die Straße hinunter zum Friseurgeschäft und direkt in diesen hinein. Die rothaarige Friseurin saß – im Moment offensichtlich in einer Pause zwischen zwei Terminen – untätig herum und blätterte in einer Zeitschrift.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie mit einem kurzen Blick auf Lacey.

„Ich denke es wird Zeit“, sagte Lacey in bestimmen Ton. „Ich meine: Zeit für einen Kurzhaarschnitt.“

Das war ein weiterer Traum von ihr, den sie bisher nie gewagt hatte, in die Tat umzusetzen. David hatte ihre langen Haare geliebt. Aber jetzt wollte sie keine Sekunde länger aussehen wie ihr böser Zwilling. Die Zeit war reif. Dafür. ihr Haar abschneiden zu lassen. Außerdem war es an der Zeit, auch den Rest der alten Lacey hinter sich zu lassen. Sie hatte jetzt ein ganz neues Leben und in diesem würde sie nur das machen, was sie selbst wollte.

„Sind Sie sicher, dass ich Ihre Haare abschneiden soll?“, fragte die Frau. „Sie scheinen es ja ernst damit zu meinen, aber ich muss Sie das trotzdem fragen. Ich möchte ja nicht, dass Sie es später bereuen.“

„Ich bin mir sicher,“ antwortete Lacey. „Wenn ich das durchgezogen habe, dann habe ich mir drei langgehegte Wünsche in ebenso vielen Tagen erfüllt.“

Die Frau grinste und griff nach ihrer Schere. „Na dann mal los. Gehen wir den Hattrick an!“




KAPITEL SIEBEN


„Passt,“ meinte Ivan und kroch aus dem Schränkchen unter der Küchenspüle heraus. „Dieses Rohr dürfte jetzt nicht mehr lecken.“

Er hievte sich zurück in eine stehende Position, nicht ohne dabei verschämt den Saum seines zerknitterten grauen T-Shirts, das nach oben gerutscht war, wieder über seinen schneeweißen Schmerbauch zu ziehen. Lacey tat höflich so, als hätte sie nichts davon bemerkt.

„Danke für die schnelle Reparatur“, sagte Lacey, die wirklich dankbar dafür war, in Ivan einen Vermieter zu haben, der alle an ihrem Haus anfallenden Reparaturen – und davon hatte es schon eine Menge gegeben – zuverlässig und schnell erledigte. Doch inzwischen wurde es ihr schon ein wenig peinlich, dass sie ihn so oft zu sich ins Crag Cottage zitierte, denn der Weg auf die Klippe hinauf war ziemlich steil und Ivan war auch nicht mehr der Jüngste.

„Kann ich Ihnen etwas zum Trinken anbieten?“, fragte sie ihn deswegen. „Tee? Oder ein Bier?“

Zwar wusste sie bereits im Voraus, dass Ivan ihr Angebot ausschlagen würde, denn er war schüchtern und schien sich auf keinen Fall aufdrängen zu wollen. Aber sie fragte ihn trotzdem jedes Mal, wenn er bei ihr war, ob sie ihm etwas anbieten konnte.

Er kicherte. „Nein, Lacey, es ist schon okay so. Denn ich muss mich heute Abend noch um meinen Bürokram kümmern. Wie heißt das schöne, alte Sprichwort: es gibt keine Ruhe für die Schuldigen.“

„Da sagen Sie was“ antwortete sie. „Ich war schon um fünf Uhr heute Morgen im Laden und bin erst um acht Uhr abends wieder nach Hause gekommen.“

van hob erstaunt seine Augenbrauen. „Im Laden?“



„Oh“, sagte Lacey ebenfalls überrascht. „Ich dachte ich hätte Ihnen schon als Sie da waren, um die Rohre durchzuspülen erzählt, dass ich dabei bin, hier in der Stadt einen Antiquitätenladen aufzumachen. Ich habe den leerstehenden Laden von Stephen und Martha gemietet – Sie wissen schon, den, in dem bis vor Kurzem ein Geschäft für Haus- und Gartenbedarf war.“

Ivan wirkte wirklich ziemlich erstaunt. „Ich dachte Sie wären nur hier, um Urlaub zu machen!“

„Das war ich eigentlich auch. Aber dann habe ich beschlossen hierzubleiben. Aber nicht unbedingt hier in diesem Haus. Wenn Sie es anderweitig brauchen, dann suche ich mir natürlich etwas Neues.“

„Von mir aus müssen Sie das nicht tun; ich bin ja froh, dass Sie hier wohnen“, meinte Ivan, der tatsächlich ziemlich erfreut aussah. „Bleiben Sie ruhig hier wohnen, so lange Sie wollen. Oder stört es Sie, dass ich das Haus herrichte während Sie darin wohnen?“

„Das ist okay für mich“, antwortete Lacey. “Sonst wäre es fast ein bisschen einsam hier geworden.“

Und das entsprach den Tatsachen. Denn das Einzige, das sie aus ihrem alten Leben in New York vermisste, war nicht die Stadt selbst oder ihre Wohnung oder die ihr vertraute Umgebung, sondern die Menschen, die sie dort zurГјckgelassen hatte.

„Vielleicht sollte ich mir einen Hund zulegen“, meinte sie kichernd.

„Dann gehe ich davon aus, dass Sie Ihre Nachbarin noch nicht kennengelernt haben“ meinte Ivan. „Sie ist eine sehr nette Dame. Exzentrisch. Sie hat einen Collie, der ihre Schafe hütet.“

„Ihre Schafe kenne ich schon“, erzählte Lacey. „Die kommen nämlich in meinen Garten rüber.“

„Oh, dann ist da wohl ein Loch im Zaun. Ich repariere das. Aber Ihre Nachbarin trinkt bestimmt gerne einmal einen Tee mit Ihnen. Oder ein Bier“, sagte Ivan mit dem für ihn typischen väterlichen Zwinkern, das sie immer an ihren Vater erinnerte.

„Ist das wahr? Wird sie sich nicht eher gestört fühlen, wenn da plötzlich irgendeine dahergelaufene Amerikanerin vor ihrer Tür steht?“

„Gina doch nicht! Sie wird begeistert sein! Gehen Sie ruhig rüber und klopfen an ihre Tür. Ich verspreche Ihnen, dass sie es nicht bereuen werden.“

Dann machte sich Ivan auf den Heimweg und Lacey tat wie er ihr geheißen hatte und ging zum Haus ihrer Nachbarin hinüber. Wobei das Wort „Nachbarin“ nur im weiteren Sinne zutraf, denn besagtes Nachbarhaus lag einen mindestens fünf Minuten langen Fußweg von Laceys Haus entfernt.



Schließlich stand sie vor dem Landhaus, das einmal davon abgesehen, dass es nur es nur eine Ebene hatte, dem ihren ähnelte und klopfte an dessen Tür. Gleich danach hörte sie von der anderen Seite derselben Geräusche, die zum einen vom Herumwuseln eines Hundes und zum anderen von einer Frau kamen, die versuchte, diesen zu beruhigen.

Dann wurde die Tür einen breiten Spalt weit geöffnet. Aus diesem Spalt sah ihr eine Frau mit langem, grauem, gewelltem Haar entgegen, die trotz ihres Alters von wohl über sechzig Jahren eher aussah wie ein Kind. Sie trug eine lachsfarbene Wolljacke und einen bodenlangen, mit Blumen bedruckten Rock. Zu ihren Füßen konnte Lacey die Schnauze eines schwarzweißen Border Collies sehen, der mit aller Macht versuchte, sich an der Frau vorbei zu drängen.

„Aus dem Weg, Boudicca“, rief die Frau.

„Boudicca?“, fragte Lacey. „Was für ein interessanter Name für einen Hund.“

„Sie ist nach der rachsüchtigen, heidnischen, Kriegerkönigin benannt, die sich gegen die Römer aufgelehnt und London niedergebrannt hat. Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?“

Lacey konnte die Frau auf Anhieb gut leiden. „Mein Name ist Lacey. Ich wohne nebenan und wollte mich Ihnen jetzt, wo ich wahrscheinlich länger hierbleiben werde, kurz vorstellen.“

„Sie wohnen nebenan? Im Crag Cottage?“

„Das stimmt.“

Die Frau begann übers ganze Gesicht zu strahlen, riss ihre Tür ganz auf und öffnete gleichzeitig ihre Arme, um Lacey zu umarmen. Dies stachelte Boudicca an, weiter wild herumzuspringen  und zu bellen. „Ich heiße Georgina Vickers. Meine Familie nennt mich George, aber für meine Freunde bin ich Gina.”

„Und wie nennen Sie Ihre Nachbarn?“ fragte Lacey scherzhaft, als sie die Frau endlich aus ihrer innigen Umarmung entließ.

„Sagen Sie Gina zu mir, wenn�s recht ist.“ Die Frau nahm Laceys bei der Hand und zog an dieser. „Und jetzt rein mit Ihnen. Kommen Sie rein! Kommen Sie rein! Ich setze Wasser auf.“

Ohne eine Chance, der Frau zu widersprechen, wurde Lacey ins Innere des Häuschens hineingezogen.

Und obwohl sie dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, würde sie den Satz „Ich setze Wasser auf“, noch sehr oft zu hören bekommen.

„Ist das denn zu glauben, Boo – wir haben endlich wieder einen Nachbarn!“, sagte die Frau während sie ihren Flur, der eine ziemlich niedrige Decke hatte, entlangging.

Lacey folgte der Frau in deren KГјche. Diese war etwa halb so groГџ wie ihre und mit dunkelroten Fliesen ausgelegt. In der Mitte der KГјche stand eine Kochinsel, die so groГџ war, dass sie einen GroГџteil derselben einnahm. Die Wand, an der die SpГјle stand, verfГјgte Гјber ein groГџes Fenster, das auf einen mit vielen Blumen bestandenen Garten hinausging, hinter dem man auch das Meer sehen konnte.

„Gärtnern Sie?“ fragte Lacey.

„Sogar sehr gerne und mit großem Stolz. Ich ziehe auch viele Blumen und Kräuter, aus denen ich Mittelchen mache, bin also sozusagen eine echte Kräuterhexe.“ Über diese Selbsteinschätzung kichernd fragte Gina: „Möchten Sie eines davon probieren?“ Dabei zeigte sie auf eine Menge bernsteinfarbiger Glasflaschen, die auf einem behelfsmäßig zusammengezimmerten, wackeligen Holzregal aufgereiht waren. „Ich habe etwas gegen Kopfschmerzen, Krämpfe, Zahnschmerzen, Rheuma….“

„Uh…Ich glaube da nehme ich doch lieber einen Tee“; antwortete Lacey.

„Ach ja, der Tee!“, entfuhr es der exzentrischen Frau. Sie stapfte zur anderen Seite der Küche hinüber, wo sie zwei Becher aus einem Schrank holte. „Was für einen möchten Sie? English Breakfast? Assam? Earl Grey? Lady Grey?“

Lacey hatte gar nicht gewusst, dass es so viele verschiedene Sorten Tee gab. Sie fragte sich, welche Sorte sie bei ihrem „Date“ mit Tom getrunken hatte, denn die war köstlich gewesen. Die Gedanken, die sie sich gerade über Teesorten machte, hatten ihr doch tatsächlich die Erinnerung an diese Begegnung zurückgebracht.

„Welcher davon ist denn der typischste, der den man zu Scones trinkt?“

„Das ist der English Breakfast“, sagte Gina und nickte zur Bestätigung. Sie kramte so lange in ihrem Schrank bis sie eine Dose gefunden hatte und entnahm dieser zwei Teebeutel, die sie auf die beiden nicht zusammenpassenden Humpen verteilte. Sie füllte den Kessel mit Wasser, stellte ihn an, drehte sich dann mit vor unverhohlener Negier sprühenden Augen zu Lacey um und fragte diese: „Und wie gefällt es Ihnen hier in Wilfordshire?“.

„Ich war schon einmal hier“, erklärte Lacey. „Damals war ich noch ein Kind und habe hier einen so schönen Urlaub verbracht, dass ich die gute Zeit, die ich damals hatte, gerne wieder ins Hier und Heute zurückholen wollte.“

„Und hat es geklappt?“

Lacey dachte an Tom. An ihren Laden. An das Crag Cottage, An die ganzen Erinnerungen an ihren Vater, die hier vor Ort wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins gekommen waren – und das nach mehr als zwanzig Jahren, in denen diese wie verschüttet gewesen waren. All diese Gedanken zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Und wie es geklappt hat.“

„Und wie sind Sie im Crag Cottage gelandet?“, fragte Gina.

Lacey wollte gerade anfangen zu erzählen, wie sie im Coach House zufällig mit Ivan bekanntgeworden war, als der Wasserkessel zu kochen begann und dabei so laut blubberte, dass dieses Geräusch ihre Stimme übertönte. Gina streckte einen Finger in die Luft um ihr zu bedeuten, dass sich merken solle, was sie gerade sagen wollte und ging zu dem Kessel  hinüber, wobei ihr der Border Collie Boudicca ständig um die Beine herumstrich.

Gina goss heißes Wasser in die Teebecher. „Nehmen Sie Milch?“, fragte sie über ihre Schulter hinweg mit angelaufenen Brillengläsern.

Lacey erinnerte sich daran, dass Tom ihr einen Schuss Milch in den Tee getan hatte und sagte deshalb: Ja, bitte.“

„Und Zucker?“

„Wenn man das hier so macht, dann gerne.“

Gina zuckte die Schultern. „Das kommt darauf an, wie man seinen Tee mag. Ich nehme Zucker, aber vielleicht sind Sie auch so schon süß genug?“

Lacey kicherte. „Wenn Sie Zucker nehmen, denn nehme ich auch welchen.“

„Okay“, sagte Gina. „Ein oder zwei Stück?“

Laceys Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Ich habe gar nicht gewusst, dass es so kompliziert sein kann, eine Tasse Tee zuzubereiten!“

Gina kicherte wie eine Hexe. „Tee zuzubereiten ist eine eigene Kunstform, meine Liebe! Ein Stück Zucker ist angemessen, während zwei Stücke schon als deutlich weniger vornehm gelten. Und drei? Einen Tee mit drei Stück Zucker nennen wir hier einen „Bauarbeitertee.“ Sie zog ein Gesicht und kicherte erneut.

„Ein ,Bauarbeitertee�. Das muss ich mir merken“, antwortete Lacey.

Scheinbar war der Tee fertig, denn Gina legte die beiden ausgedrГјckten Teebeutel auf einenВ  Berg weiterer ausgedrГјckter Teebeutel, der sich auf einer Untertasse neben dem Wasserkessel stapelte und brachte die Tassen dann zu dem wackeligen KГјchentisch hinГјber. Sie setzte sich, warf ein StГјck Zucker in Laceys Tasse, rГјhrte diesen um und schob die Tasse dann zu Lacey hinГјber.

Lacey nahm das Gebräu dankbar entgegen und nippte daran. Es schmeckte ganz ähnlich wie der Tee, den Tom ihr gekocht hatte, zwar ein wenig stärker und würziger als dieser, aber doch ähnlich genug, dass Lacey wieder an Tom und seinen Tee zurückdenken musste.

Boudicca legte sich zu Ginas FГјГџen hin und wedelte glГјcklich mit dem Schwanz.

„Sie wollten mir gerade erzählen, wie Sie hier in Wilfordshire gelandet sind“, sagte Gina und knüpfte damit das Gespräch dort wieder an, wo es vorhin so plötzlich von dem kochenden Wasserkessel unterbrochen worden war.

„Durch meine Scheidung“, sagte Lacey, die sich dachte, es wäre wohl das Beste, die auf diese Bemerkungen so gut wie unvermeidlichen Mitleidsbekundungen gleich hinter sich zu bringen.

„Oh mein Schatz“, sagte Gina und tätschelte dabei sanft Laceys Hand. „Ich bin auch geschieden. Das war eine schreckliche Zeit damals. Aber denken Sie sich nichts,  das war schon in den 1990iger Jahren, weshalb ich inzwischen genug Zeit hatte, um darüber weg zu kommen.“

„Und Sie haben nicht noch einmal geheiratet?“, fragte Lacey, der der Gedanke, sie könne – oder müsse – in Ginas Fußstapfen treten und die nächsten dreißig Jahre ebenfalls allein bleiben,  etwas Angst einflößte.

„Gott bewahre! Ich war damals so erleichtert, Schätzchen“, sagte Gina. „Mein Mann war wie alle anderen Männer auch: ein unreifer kleiner Junge, den man in einen Anzug gesteckt hatte. Wenn Sie mich fragen, sind Sie ohne weitaus besser dran! Wenn ich nur daran denke, wie oft er mich belogen und betrogen hat – und das für nichts und wieder nichts.“

Lacey musste lächeln. „Hatten Sie Kinder?“

„Nur eines, einen Sohn“, sagte Gina mit einem tiefen Seufzer. „Er ist zum Militär gegangen und leider in Ausübung seines Dienstes tödlich verunglückt.“

Lacey rang nach Luft. „Oh, das tut mir sehr leid.“

Gina lächelte traurig. „Er war ein toller Kerl.“ Doch dann verflog ihre Traurigkeit wieder . „Aber genug davon. Wie schmeckt Ihnen Ihr Tee? Das ist wahrscheinlich nicht das, was man üblicherweise in den USA trinkt?“

„Er ist köstlich“, sagte Lacey und nahm einen weiteren Schluck davon. „Beruhigend. Ich denke aber, ich bin nicht besonders vornehm.“ Damit gab sie ein zweites Stück Zucker in ihren Tee.

„Jetzt schmeckt er noch besser.“

Denn jetzt schmeckte er genauso wie der Tee, den Tom für sie gekocht hatte. Lacey lächelte in sich hinein und fragte sich, wann sie Tom wohl wiedersehen würde.

„Und wie lange wollen Sie in Ivans Cottage wohnen bleiben?“, fragte Gina.

„Zurzeit weiß ich das selbst noch nicht“, antwortete Lacey. „Ich bin gerade dabei, in der Stadt einen Laden aufzumachen. Ich möchte dort Antiquitäten verkaufen.“

„Wirklich?“, rief Gina. Ihr anscheinend echtes Interesse an dieser seltsamen Amerikanerin, die bei ihr aufgetaucht war, um sich ihr vorzustellen, machte sie Lacey ungeheuer sympathisch.

Lacey nickte. „Davon habe ich schon lange geträumt. Schon mein Vater hatte früher, als ich noch ein Kind war, einen Antiquitätenladen. Und bei mir hat sich das jetzt eben auch so ergeben.“

„Da hatte bestimmt das Universum seine Hände im Spiel“, sagte Gina. „Denn das sorgt schon dafür, dass alles ins Lot kommt. Und dafür, dass Sie jetzt da sind, wo Sie hingehören.“

Lacey lächelte, denn diese Idee gefiel ihr.

„Wissen Sie schon, wo Sie Ihre Ware herbekommen werden?“, fragte Gina.

Ich hatte bisher beruflich mit dem Einrichten von Wohnungen und damit auch mit Antiquitäten zu tun“, erklärte Lacey. „Deshalb habe ich eine ellenlange Liste von Läden und viele Kontakte zu Leuten, die hier in Großbritannien mit Antiquitäten handeln. Das einzige, was mir noch fehlt, ist ein Auto, mit dem ich diese Kontakte abklappern und schauen kann, auf welche Art von Antiquitäten ich mich spezialisieren möchte. Ich werde aber bestimmt in Richtung Möbel und Inneneinrichtung gehen, denn damit kenne ich mich, wie gesagt, ganz gut aus.“




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